Die falsche Tochter - Roman
waren. Es gab niemanden, gegen den sie kämpfen konnte, und sie wusste nicht mehr, wohin mit ihrer Wut.
Wie oft sollte sie sich noch die Zeittafel anschauen, die Jake und sie zusammengestellt hatten? Wie oft sollte sie noch versuchen, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Menschen, Jahren und Ereignissen aufzudecken? Wenigstens Doug tat etwa Handfestes, indem er in Boston recherchierte. Aber wenn sie an seiner Stelle dorthin gefahren wäre, hätte sie das
Team in einer Zeit im Stich gelassen, in der es sie am meisten brauchte. Nein, sie musste vor Ort bleiben und die tägliche Routine aufrechterhalten. Sie wusste, dass die Leute erwarteten, dass sie den Ton angab, ebenso wie sie wusste, dass sie über das sprachen, was Callie über ihre Vergangenheit herausbekommen hatte. Sie bemerkte die Blicke, die man ihr zuwarf, die Gespräche im Flüsterton, die abrupt beendet wurden, wenn sie das Zimmer betrat. Doch sie machte den anderen deswegen keinen Vorwurf, schließlich waren es ja auch sensationelle Neuigkeiten, dass Dr. Callie Dunbrook die seit langem vermisste Jessica Cullen war.
Allerdings weigerte sich Callie, den Medien Interviews zu geben. Es war eine Sache, die Wahrheit zutage fördern zu wollen, aber eine ganz andere, irgendwelchen Reportern persönliche Dinge aus dem eigenen Leben zu erzählen. Gegen die Neugier der Menschen konnte sie allerdings nichts ausrichten. Callie war sich absolut im Klaren darüber, dass mindestens die Hälfte der Schaulustigen auf der Grabung mehr an ihrer Person als an dem Projekt interessiert waren. Es hatte ihr zwar nie etwas ausgemacht, im Rampenlicht zu stehen, aber es war schon etwas anderes, wenn dabei nicht ihr Beruf im Vordergrund stand.
Das alles hatte dazu geführt, dass Callie in der letzten Zeit äußerst reizbar, schreckhaft und zerstreut geworden war. Und deshalb erschrak sie auch eines Abends unter der Dusche beinahe zu Tode, als plötzlich die Badezimmertür geöffnet wurde. Sie ergriff den Brausekopf und hielt ihn wie eine Waffe vor sich, während in ihrem Kopf die berühmte Mordszene aus Psycho ablief. Vorsichtig umklammerte sie den Rand des Duschvorhangs, bereit, ihn jeden Moment zurückzuziehen.
»Ich bin es, Rosie«, ertönte eine weibliche Stimme.
»Wie kannst du mich so erschrecken, verdammt noch mal!« Callie rammte den Duschkopf wieder in die Halterung. »Ich stehe nackt unter der Dusche.«
»Das will ich doch hoffen. Wenn du anfingest, in deinen Klamotten zu duschen, würde ich mir ernsthafte Sorgen um
dich machen. Ich habe mir gedacht, dass das Badezimmer so ziemlich der einzige Ort ist, an dem wir mal unter vier Augen miteinander reden können.«
Callie zog den Duschvorhang ein Stück beiseite. Durch den Dampf sah sie, wie Rosie sich auf den Toilettendeckel setzte und die Beine übereinander schlug.
»Du musst hier raus, meine Liebe«, sagte sie.
»Wo raus?« Callie zog den Vorhang wieder zu und brauste sich ab. »Himmel, hier herrscht aber auch kein Respekt untereinander. Die Leute kommen einfach ins Badezimmer, wenn jemand nackt unter der Dusche steht.«
»Du hast Ringe unter den Augen. Außerdem hast du abgenommen, und deine Laune ist durchgängig beschissen. Meine Güte, Callie, du kannst nicht mit der Hacke auf einen Reporter losgehen! Das ist schlechte PR.«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich zu persönlichen Dingen keinen Kommentar abgeben möchte. Ich habe ihm sogar angeboten, ihm etwas über das Projekt zu erzählen. Aber er hat einfach nicht lockergelassen.«
»Süße, ich weiß, dass das alles hart für dich ist. Du solltest Leo, Jake und mir den Umgang mit den Medien überlassen.«
»Ich brauche keinen Schutzschild, Rosie.«
»Doch, den brauchst du. Von jetzt an werde ich mit den Reportern reden, und wenn du dich weigerst, das einzusehen, werden wir zum ersten Mal ernsthaft Streit bekommen. Wir kennen uns jetzt seit sechs Jahren, und ich möchte unsere Freundschaft nur ungern aufs Spiel setzen. Aber wenn du mich dazu zwingst, Callie, dann streite ich mich auch mit dir.«
Callie schob den Duschvorhang erneut ein Stück beiseite und funkelte Rosie wütend an. »Du hast leicht reden, wenn ich nackt und nass unter der Dusche stehe.«
»Dann trockne dich ab und zieh dich an. Ich warte so lange.«
»Sehe ich wirklich so schlecht aus?«
»Es war schon mal besser. So habe ich dich zum letzten Mal gesehen, als Jake und du damals auseinander gegangen seid.«
»Ich kann aber die Finger nicht von der Ausgrabung lassen. Und ich will
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