Die falsche Tochter - Roman
über ihre Schulter hinweg auf den Bildschirm. Mit den Fingern ihrer linken Hand trommelte Callie leise auf die Schreibtischplatte, ein weiteres Zeichen dafür, dass sie schon länger hier war.
»Warum schaust du dir dreißig Jahre alte Tageszeitungen an?«
Callie fuhr vor Schreck zusammen und sprang so abrupt auf, dass sie mit dem Kopf gegen sein Kinn knallte.
»Verdammt!«, fluchten sie beide wie aus einem Munde.
»Warum schleichst du dich so an?«, fragte sie aufgebracht.
»Was zum Teufel denkst du dir eigentlich dabei, nicht zur Arbeit zu kommen?« Er packte sie am Handgelenk, um sie daran zu hindern, das Lesegerät abzustellen. »Seit wann interessierst du dich für Entführungsfälle aus dem Jahr 1974?«
»Hau ab, Graystone!«
»Cullen?« Ohne ihre Hand loszulassen, las Jake die alte Zeitungsmeldung laut vor. »Jay und Suzanne Cullen? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Gestern wurde die drei Monate alte Jessica Lynn Cullen in der Hagerstown Mall aus ihrem Buggy entführt«, las er weiter. »Ach du liebe Güte, das ist ja schrecklich, was? Hat man sie denn je wieder gefunden?«
»Ich will nicht mit dir reden.«
»Zu dumm! Du weißt genau, dass ich keine Ruhe gebe, bis ich herausgefunden habe, was dich so aufgeregt hat. Dir stehen die Tränen in den Augen, Callie, und du weinst nicht so leicht.«
»Ich bin nur müde.« Wie ein Kind rieb sie sich über die Augen. »Ich bin einfach nur verdammt müde.«
»Ist ja okay.« Jake legte ihr die Hände auf die Schultern und massierte sie sanft, um die Spannung zu lösen. Offensichtlich brauchte er sie gar nicht wütend zu machen. Das war gut,
denn dazu hatte er sowieso keine Lust. Wenn sie gegen Tränen kämpfen musste, war sie nämlich genauso offen. Allerdings wollte er auch nicht ihre Schwäche ausnutzen.
»Ich bringe dich ins Motel zurück, damit du dich ausschlafen kannst.«
»Ich will noch nicht zurück. Ich brauche was zu trinken.«
»Gut. Wir stellen dein Auto am Motel ab und suchen uns eine Bar.«
»Warum bist du eigentlich so nett zu mir, Graystone? Wir können uns doch noch nicht einmal besonders leiden.«
»Eine Frage nach der anderen, Babe. Und jetzt komm.«
6
Das Blue Mountain Hideaway war ein mit Schindeln verkleidetes Gasthaus, das ein paar Meilen außerhalb der Stadt ein wenig abseits von der Straße lag. Ein Schild verkündete, dass es hier sowohl Essen als auch Getränke gäbe.
An einer Wand gab es drei Nischen, und mitten im Raum standen ungefähr ein halbes Dutzend Tische mit Klappstühlen, die aussahen, als habe sie jemand zusammengeschoben und dann vergessen. Die Bar war vom Alter schon ganz dunkel und der Boden mit beigefarbenem, grau gesprenkeltem Linoleum ausgelegt. Die einzige Kellnerin war jung und dünn wie ein Vögelchen. Aus der Jukebox ertönte Travis.
Zwei Männer, offenbar Einheimische, saßen an der Bar und tranken Bier. Callie nahm an, dass es Arbeiter waren, denn sie trugen derbe Stiefel, Kappen und verschwitzte T-Shirts. Vielleicht gehörten sie sogar zu Dolans Bauunternehmen. Die Männer blickten sich um, als Callie und Jake eintraten, und musterten die beiden unverblümt.
Callie setzte sich an einen Tisch in einer der Nischen, wobei sie sich fragte, warum sie eigentlich hierher gekommen war. Am liebsten hätte sie jetzt auf ihrem Bett im Motel gelegen und wäre in einen traumlosen Schlaf gesunken, um alles zu vergessen.
»Ich weiß gar nicht, was ich hier soll.« Sie blickte Jake in die Augen und versuchte an seinem Blick abzulesen, was er
dachte. Aber wie schon so oft, gelang es ihr nicht. »Was zum Teufel ist das hier?«
»Ein Gasthaus, wo man essen und trinken kann.« Er schob ihr die Speisekarte über den Tisch zu. »Und zwar genau nach deinem Geschmack.«
Sie betrachtete das Angebot. »Ich möchte nur ein Bier«, sagte sie schließlich.
»Das habe ich ja noch nie erlebt, dass du Essen ablehnst, vor allem nicht, wenn es vor Fett trieft.« Er fuhr mit dem Finger die Speisekarte entlang und ließ ihn an einer Stelle ruhen, als die Kellnerin an ihren Tisch trat. »Zwei Burger mit Fritten und zwei Bier vom Fass.«
Callie wollte protestieren, zuckte jedoch nur die Schultern und verfiel in grüblerisches Schweigen. Allmählich machte Jake sich wirklich Sorgen um sie. Wenn sie ihn nicht anfauchte, weil er eine Entscheidung für sie traf – auch, wenn er dieses Mal nur etwas zu essen bestellt hatte –, musste sie tatsächlich in einer äußerst schlechten Verfassung sein. Dabei sah sie eigentlich
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