Die falsche Tochter - Roman
herausfinden, indem Sie sich diese alten Knochen anschauen?«
»Wer die Menschen waren, warum sie hier lebten, wie sie
lebten. Und je mehr wir über die Vergangenheit wissen, desto besser verstehen wir uns selbst.«
Doug vertrat eigentlich die Ansicht, dass die Vergangenheit vorüber war und nur die Gegenwart zählte. »Ich habe nicht das Gefühl, mit einem – was sagten Sie noch? – sechstausend Jahre alten Mann viel gemeinsam zu haben.«
»Nun, er aß und schlief, er liebte und wurde krank, spürte Hitze und Kälte.« Leo nahm seine Brille ab und polierte sie mit einem Zipfel seines Hemdes. »Und er entwickelte sich weiter und ebnete denen, die nach ihm kamen, den Weg. Ohne ihn wären wir nicht hier.«
»Da haben Sie sicher Recht«, gab Doug zu. »Na ja, ich wollte es mir nur mal anschauen. Als Kind habe ich immer hier im Wald gespielt, und im Sommer bin ich oft im Simon’s Hole geschwommen.«
»Warum heißt der Teich eigentlich so?«
»Wie bitte? Oh!« Doug warf Leo einen Blick zu. »Es heißt, dass vor vielen hundert Jahren ein Junge namens Simon in dem Teich ertrunken sei. Und jetzt spukt er in den Wäldern herum – falls Sie an solche Geschichten glauben.«
Leo schürzte die Lippen und setzte seine Brille wieder auf. »Wer war er?«
Doug zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Irgendein Kind.«
»Sehen Sie, und für mich ist es wichtig, ich möchte es gerne wissen. Wer war Simon? Wie alt war er? Was tat er hier? Es interessiert mich einfach. Dadurch, dass er hier ertrunken ist, hat er das Leben anderer Menschen verändert. Der Verlust jedes Menschen, vor allem aber eines Kindes, verändert das Leben seiner Familienmitglieder.«
Ein dumpfer Schmerz breitete sich in Dougs Magen aus. »Ja, da haben Sie Recht. Tja, jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten. Danke für Ihre Mühe.«
»Kommen Sie jederzeit wieder. Wir freuen uns über das Interesse der Leute hier.«
Es ist schon in Ordnung, dass Callie nicht da war, sagte sich
Doug, als er zum Auto zurückging. Was hätte er ihr schon sagen können? Wahrscheinlich hätte er alles nur noch schlimmer gemacht. In diesem Moment hielt ein anderes Auto hinter seinem. Das ist ja die reinste Touristenattraktion, dachte Doug verbittert. Warum können die Leute eigentlich keine Ruhe geben?
Lana sprang aus ihrem Wagen und winkte ihm fröhlich zu. »Hallo! Schauen Sie sich auch den Ort an, der Woodsboro ewigen Ruhm einbringen wird?«
Doug erkannte die junge Frau sofort. Ein Gesicht wie ihres vergaß man nicht so schnell. »Ziemlich viele Löcher hier. Ich weiß nicht, ob das unbedingt besser ist als Dolans Häuser.«
»Oh doch, hundertprozentig.« Der Wind fuhr ihr durch die Haare. Mit geschürzten Lippen ließ sie ihren Blick über das Gelände schweifen. »Wir bekommen schon eine Menge Aufmerksamkeit im ganzen Land. Jedenfalls so viel, dass Dolan hier in absehbarer Zeit keinen Stein mehr auf den anderen setzen wird. Hm –« Sie sah sich suchend um. »Ich kann Callie gar nicht sehen.«
»Kennen Sie sie?«
»Ja. Haben Sie sich die Ausgrabung angeschaut?«
»Nein.«
Lana legte den Kopf schräg. »Sagen Sie, sind Sie eigentlich von Natur aus unfreundlich, oder empfinden Sie nur eine spontane Antipathie mir gegenüber?«
»Vermutlich bin ich von Natur aus unfreundlich.«
»Na, da bin ich ja erleichtert.«
Sie wollte gerade losgehen, als Doug sie leise fluchend am Arm festhielt. Er musste sich eingestehen, dass er wirklich nicht gerade höflich zu ihr gewesen war, und das, wo sein Großvater sie so gern mochte.
»Hören Sie, es tut mir Leid, aber mir geht im Moment eine Menge durch den Kopf.«
»Das merkt man.« Sie machte noch einen Schritt, dann wandte sie sich rasch zu ihm um. »Stimmt irgendetwas mit Roger nicht? Ich hätte es doch erfahren, wenn …«
»Nein, ihm geht es gut. Sie mögen ihn, nicht wahr?«
»Ja, sehr, Ich bin geradezu verrückt nach ihm. Hat er Ihnen erzählt, wie wir uns kennen gelernt haben?«
»Nein.«
Lana schwieg, während sie darauf wartete, dass Doug sie aufforderte, es ihm zu erzählen. Als jedoch nichts kam, lachte sie auf. »Okay, drängen Sie mich nicht so, ich erzähle es Ihnen ja schon. Ein paar Tage nachdem ich nach Woodsboro gezogen war, landete ich zum ersten Mal in seinem Laden. Ich hatte gerade meine Kanzlei eröffnet, mein Sohn war bei der Tagesmutter untergebracht, und ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Also machte ich einen Spaziergang, der in der Buchhandlung Ihres Großvaters endete.
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