Die Familie ohne Namen
sie Nebenwege eingeschlagen, um die große Straße zu vermeiden. Da gab es Verwundete, gestützt und geführt von ihren Eltern und Freunden, da kamen Frauen, welche noch mit sich schleppten, was ihnen von ihrer Familie geblieben war, doch auch noch kampffähige Patrioten, welche der Feuersbrunst und der Niedermetzelung hatten entgehen können. So manche derselben mußten Bridget wohl kennen, und diese hielt doch darauf, Niemand wissen zu lassen, daß sie aus dem geschlossenen Hause weggegangen sei; deshalb wollte sie, im Schatten der Mauer verborgen, diese erste Woge der Flüchtlinge vorüberziehen lassen.
Doch was mußte Clary während dieser wenigen Minuten denken, wenn sie die Klagelaute der Leute – das Jammern der Verzweiflung hörte? Seit mehreren Stunden schon harrte sie sehnsüchtig auf Nachrichten von St. Charles. Vielleicht beeilte sich ihr Vater, vielleicht auch Johann, ihr diese zu übermitteln, wenn dieser nicht nach einem erneuten Siege beschloß, sofort auf Montreal zu marschiren.
Nein! Durch die Thür, welche Clary noch nicht zu öffnen wagte, drangen nur Seufzer und Klagelaute herein.
Nachdem die Flüchtlinge am Hause vorübergezogen, wandten sie sich weiter draußen dem Wasser erst an einer Stelle zu, wo sie dasselbe jedenfalls hofften, überschreiten zu können.
Die Straße war wieder still geworden, obgleich sich flußaufwärts schon wieder ein dumpfes Getöse vernehmen ließ.
Bridget hatte sich erhoben. Eben als sie noch einmal anklopfen wollte ging die Thür auf und schloß sich wieder unmittelbar hinter ihr.
Clary de Vaudreuil und Bridget Morgaz standen sich jetzt gegenüber, und zwar in einem Zimmer des Erdgeschosses, das eine Lampe, deren Schein nicht durch die festgeschlossenen Läden dringen konnte, nur matt erhellte.
Die alte Frau und das junge Mädchen sahen einander an, während die Dienerin etwas abseits stand.
Clary sah sehr bleich aus und wagte, in der Voraussetzung eines entsetzlichen Unglücks, erst keine Frage zu stellen.
»Die Patrioten von St. Charles?… sagte sie endlich.
– Geschlagen! antwortete Bridget.
– Mein Vater?
– Verwundet!
– Todt?…
– Vielleicht.«
Clary hatte nicht mehr die Kraft sich aufrecht zu erhalten und Bridget mußte sie in ihren Armen auffangen.
»Muth! Clary de Vaudreuil! sagte sie. Ihr Vater wünscht, daß Sie zu ihm kommen. Sie müssen dem Wunsche nachkommen, müssen mir, ohne einen Augenblick zu verlieren, folgen.
– Wo ist mein Vater? fragte Clary, sich aus diesem Schwächeanfall aufraffend.
– Bei mir… in St. Charles, erklärte Bridget.
– Wer sendet Sie, Madame?
– Ich sagte es Ihnen bereits… Johann!… Ich bin seine Mutter…
– Sie?… rief Clary.
– Hier, lesen Sie selbst!«
Clary nahm das Billet, welches Bridget ihr hinhielt. Es war die ihr nur zu gut bekannte Handschrift Johanns ohne Namen.
»Vertrauen Sie sich meiner Mutter an…« schrieb er.
Doch wie kam es, daß Herr de Vaudreuil sich in dieser Wohnung befand? War Johann es, der ihn gerettet, der ihn vom Schlachtfeld bei St. Charles weg und nach dem geschlossenen Hause getragen hatte?
»Ich bin bereit, Madame, sagte Clary de Vaudreuil.
– So brechen wir auf,« antwortete Bridget.
Die Einzelheiten der schrecklichen Vorkommnisse sollte Clary erst später erfahren. Schon jetzt wußte sie ja genug davon. Ihr Vater dem Tode nahe, die Patrioten zerstreut, der Sieg von St. Denis aufgehoben durch die Niederlage bei St. Charles!
Clary hatte in der Eile einen dunklen Anzug gewählt, um Bridget zu begleiten.
Die Thür des Vorraumes stand offen, Beide stiegen nach der Straße hinunter.
Die Hand in der Richtung nach St. Charles ausstreckend, sprach Bridget nur die Worte:
»Wir haben sechs Meilen zurückzulegen. Damit Niemand erfährt, daß Sie in das geschlossene Haus gekommen sind, müssen wir daselbst noch diese Nacht eintreffen.«
Clary und Bridget gingen am Ufer des Flusses hinauf, um die Landstraße zu erreichen, welche in gerader Linie von Norden nach Süden die Grafschaft St. Hyazinthe durchschneidet. Das junge Mädchen hätte mehr laufen mögen als gehen, so drängte es sie, an das Schmerzenslager ihres Vaters zu kommen. Dennoch mußte sie ihren Schritt etwas mäßigen, denn Bridget hätte ihr, trotz einer für ihr Alter wunderbaren Rüstigkeit, nicht folgen können.
Uebrigens gab es auch Verzögerungen. Verschiedene Haufen Flüchtlinge kamen ihnen direct entgegen. Geriethen sie unter diese, so konnten sie leicht nach St. Denis
Weitere Kostenlose Bücher