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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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die deutsche Frage, offenhalten, sonst hätte man sich abgefunden mit dem Status quo, andererseits musste man die Wunde versorgen, verkrusten, um zwischen den beiden Staaten ein geregeltes Hin und Her zu schaffen. Die Verkrustung, die Verschorfung der Wunde war also Gefahr und Chance zugleich.
    Dass diese widerstreitenden Energien, die sich eigentlich befehdenden Ziele Brandt auch körperlich umtrieben, seinen politischen Ausdruckskörper und Amtsleib beschäftigten, tritt in der legendären Debatte um die Ostpolitik der SPD-FDP-Koalition am 27. Mai 1970 im Deutschen Bundestag deutlich zutage. Eine Woche nachdem Willy Brandt den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR Willy Stoph zu Verhandlungen in Kassel getroffen hatte, musste die Brandt-Scheel-Regierung ihre Ostpolitik gegen die harsche Kritik der CDU/CSU-Opposition verteidigen, die den »Ausverkauf deutscher Interessen« fürchtete, weil die Bundesregierung die DDR als zweiten deutschen Staat anerkennen und die Oder-Neiße-Linie als endgültige Westgrenze Polens akzeptieren wollte. Dadurch werde schließlich der Kommunismus in Europa obsiegen, die NATO als Schutzschild zerbröseln und die Freiheit auf der Strecke bleiben. Brandt, der als letzter Redner spricht, führt aus: »Nach der jahrelangen Verkrustung war wohl diese Art von Begegnung nötig, um in Gang zu kommen.« Während er das sagt, kratzt er sich auffallend heftig am Unterarm und Ellenbogen, das Kratzen wiederholt sich, als er erneut auf das deutsch-deutsche Verhältnis zu sprechen kommt. Den Mann treibt dieses Thema auch körperlich um. Brandt unterscheidet sich an diesem Tag deutlich von den anderen Rednern, die auch eine Statur finden, die für etwas eintreten müssen und gleichsam mit dem Körper argumentieren. Brandts Vorredner Rainer Barzel sticht körperlich nicht besonders hervor, er wird vor allem von einem Tonfall regiert, Schärfe schleicht sich bei ihm verstohlen durch die Hintertür, die Person ist Sprache, Anzug, Argument, ein schneidiger, fleißiger Bürokrat. Da ist der CSU-Abgeordnete Karl-Theodor zu Guttenberg von einem anderen Kaliber. Er hält an diesem Tag seine letzte Rede im Bundestag, er leidet an einer unheilbaren Erkrankung des Nervensystems; als er, schweißgebadet, das Rednerpult verlässt, muss er von zwei Abgeordneten gestützt werden. Der Todkranke obsiegt über den Körper, indem er ihm den Furor seiner Rede abringt und – im Angesicht des nahenden Todes – mit der dramatischen Aufrichtigkeit eines Mannes spricht, den die ungewisse Zukunft des Landes stärker zu schmerzen scheint als der Abschied vom eigenen Körper. Vor diesem schier übermenschlich anmutenden Willensakt mutet Kurt Matticks (SPD) nachfolgende Rede, der sich buchstäblich mit den Händen an den Mikrophonen festhält, fast wie eine Karikatur an. Außenminister Walter Scheel ist dann wiederum ganz glatte Schale, ein Anzug wie auf den Leib gegossen, das spärliche Haar wie zum kostbaren Siegerkranz frisiert, die Haut glatt, ein bodenlos gepflegter, nüchterner, auf seine schöne Hülle achtender Mann, der sich kaum aus der Reserve locken lässt, der jedes tiefere Gefühl von der Oberfläche seines Körpers verbannt.
    Brandt hingegen ist auch körperlich fast unentwegt mit sich beschäftigt, nicht nur als Redner, sondern auch als Zuhörer, da er in der Regierungsbank dem Rednerpult am nächsten sitzt. Auch hier kratzt er sich oft, massiert die Schläfe, spielt mit einer Büroklammer, trommelt ungeduldig mit den Fingern auf den Handrücken, legt den Zeigefinger sinnend an die Wange. Diese körperlichen Selbstbefühlungen oder Erkundungen, die zumeist unbewusst abzulaufen scheinen, setzen sich fort, als er spricht, ergänzt um jene Gesten, die bewusst zum Einsatz kommen: das Ballen der Fäuste, das polternde Pochen mit dem Zeigefinger, das In-die-Hände-Klatschen, mit dem Brandt einen Angriff rhythmisch akzentuiert. Er kaut auf dem Brillenbügel, faltet die Hände, kratzt sich hinterm Ohr, legt den Zeigefinger auf die Lippen, verschränkt die Arme vor der Brust, ertastet seine Ellenbogen, knüllt Papier, wedelt mit Blättern, staucht und stößt sie in Form, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander, feuchtet sich die Lippen. Es scheint so, als ginge er auf innere Tuchfühlung zu sich selbst, als prüf-fühle er sich, als taste er die Resonanzen ab, die ihm das Plenum zuwirft und die von ihm selbst von innen nach außen wandern.

Eine Wunde, die sich nicht schloss: Die deutsch-deutsche Grenze. Willy Brandt

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