Die Familie Willy Brandt (German Edition)
denen der Politiker Stellung bezieht und somit sprechend handelt, weil das Sprechen Positionen setzt und Tatsachen schafft. In diesem Kapitel muss ich mich auf Ausschnitte konzentrieren, um nicht den familiären Zusammenhang aus dem Blick zu verlieren. Wenn man sich so etwa durch die flammend rote Berliner Ausgabe arbeitet (Zehn voluminöse Bände), die einen gewichtigen Teil des schriftlichen Werks versammelt, dann stößt man auf einige Hautbilder, die an markanten Stellen auftreten. Der Brief, den Willy Brandt am 23. Dezember 1947 an den Parteivorsitzenden Kurt Schumacher schreibt, ist einer der wichtigsten seines Lebens, nicht nur, weil er immer wieder zitiert wird, sondern weil Brandt, der sich hier gegen üble »Giftspritzen« und Verleumder aus Exilkreisen zur Wehr setzt, seine Biographie verteidigt, sich selbst prüfend ins Gesicht schaut und selbstbewusst seine politische Existenz im Nachkriegsdeutschland begründet. Dieser Brief wird zum inneren Kompass für Brandt, der ihn im Laufe seines Lebens wieder und wieder erinnert. In Hinblick auf Intriganten in der SPD schreibt er: »Ich habe allerdings auch keine Lust mehr, ruhig mit anzusehen, wie man mir ins Gesicht spuckt.« Und an einen Freund schreibt er in jenen Tagen ganz ähnlich, zwar habe er sich eine »dicke Haut« zugelegt, doch ins Gesicht spucken lassen möchte er sich nicht. Die Haut kommt bei Brandt immer dann ins Spiel, wo es um Konflikte, Angriffe oder unterschwellige Aggressionen geht. Am 22. Dezember 1970 schreibt der Bundeskanzler an seinen Verteidigungsminister Helmut Schmidt, der von ihm einen strafferen Führungsstil im Kabinett eingefordert hatte: »Keiner von uns kann mehr aus seiner Haut – aus seinem Stil – heraus.« Zwölf Jahre später, mittlerweile neigt sich die Regierungszeit des Kanzlers Schmidt dem Ende zu, schreibt ihm der Parteivorsitzende Brandt am 30. März 1982 gereizt, er wolle nicht jenen Gruppen nachlaufen, die »uns den blanken Hintern zeigen«. Schließlich beschwert sich Brandt am 23. April 1986 brieflich bei Schmidt, der ihn zuvor öffentlich kritisiert hatte, dass er niemandes »Watschenmann« sein wolle. Man kann festhalten, dass Brandt dort von der Haut spricht, wo ihn etwas berührt, angreift, wo er zur Zielscheibe wird oder wo er sich gegen jemanden zur Wehr setzen will. Die politische Haut ist eine empfindliche Fläche, weil sie vom Gegner entstellt, befleckt, durchlöchert, verätzt oder mit verfälschenden Zeichen beschrieben werden kann.
Brandt hat ein großes Thema, bei dem sich entsprechende Passagen durchgängig und ohne große Mühe finden lassen: Die deutsche Frage, also die deutsche Teilung und die Versuche, diese zu überwinden. Der Abgeordnete Brandt spricht bei einer deutschlandpolitischen Debatte im Bundestag am 17. Juli 1953 unter den Pfui-Rufen der Regierungsparteien davon, dass den Sozialdemokraten die »gesamtdeutsche Haut« näher sei »als das kleineuropäische Hemd«. Drei Tage nach dem Bau der Mauer hält der Regierende Bürgermeister am 16. August 1961 seine berühmte Rede vor dem Schöneberger Rathaus. Hunderttausende Berliner drängen sich, kampfeslustig, erregt, zornig, ohnmächtig. Brandt muss, die Rolle kennt er, Dampf aus dem Kessel lassen, aber zugleich Gefühl in politische Aktion gießen, obgleich er kaum Spielraum für politische Manöver hat. Daher appelliert er an die Alliierten, in deren Händen das Schicksal Berlins liegt: »Es kommt jetzt alles darauf an, dass unsere Freunde in vollem Umfange erkennen, dass es auch um ihre Haut, um ihre Glaubwürdigkeit, um ihr Prestige geht. […] Wir rufen die Völker der Welt, wir rufen ihre Repräsentanten auf, hierher nach Berlin zu sehen, wo die blutende Wunde eines Volkes verkrustet werden soll durch Stacheldraht und genagelte Stiefel.« Brandt macht hier aus der Haut eine existentielle Kategorie und wirft den Alliierten die Berliner Haut über (»ihre Haut«), ein starkes Bild, das vertuschen muss, dass Brandt als Regierender Bürgermeister kaum Ansprüche an die Regierungen der großen Mächte stellen kann. Bemerkenswert erscheint mir das »zerrissene Bild«, das Brandt im Anschluss benutzt. Er spricht davon, dass die blutende Wunde mit Stacheldraht und genagelten Stiefel verkrustet werden soll, ein Ding der Unmöglichkeit, denn Stacheln und Spitzen reißen die Wunde erst so richtig auf. In dem Bild schwingt jedoch auch die innere Widersprüchlichkeit der späteren Ostpolitik mit, denn einerseits wollte man ja die Wunde,
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