Die Familie Willy Brandt (German Edition)
öffentlich-politischen Raum, voll ausspielt.
Zurück in die Rauch- und Nebelhöhle des Savoy. Konrad R. Müller erzählt auch von den zahlreichen Wanderungen, die er mit Willy Brandt unternommen hat, nicht weil Brandt darauf erpicht gewesen wäre, sondern weil die Partei versuchte, ihn wieder aufzurichten, ans Leben heranzuführen, unter Menschen zu bringen. Im Sommer 1976 – der Bundeskanzler a.D. war noch nicht Präsident der Sozialistischen Internationale und er war noch nicht Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission – befand sich Willy Brandt in einer depressiven Phase. Ein Dialog mit seiner Frau Rut fand kaum noch statt, der Parteivorsitzende fühlte sich vom Bundeskanzler Schmidt schlecht oder gar nicht informiert, und sein Rücktritt war eine Wunde, die sich nicht schließen wollte. Im Erich-Ollenhauer-Haus, dem Hauptquartier der SPD, machte man sich Sorgen. Das Konzept der kollektiven Wanderung wurde als therapeutische Maßnahme ersonnen. Unter dem Motto »Mit Willy Brandt durchs Land« organisierte man eine Reihe von Wanderungen, die durch traditionelle Armutsgegenden führten, in denen die SPD stark verwurzelt war. Der große, müde Vorsitzende sollte durch die Begegnung mit der Basis wieder aufgefrischt werden, mentale Infusionen. Müller fiel dabei auf, wie Brandt vollkommen aus der begleitenden Menge herausfallen und in sich selbst verschwinden konnte, wie ihn eine abweisende Aura umgab, die jeden zurückwies.
»Wenn man meine Fotos betrachtet, wird man feststellen, wie sich Brandt auf sich selbst zurückzieht, wie er, umgeben von anderen, vereinsamt. In solchen Momenten war seine Miene ganz durchlässig. Sein Gesicht ist für mich eine Urlandschaft, zerklüftet, zerfurcht, vulkanisch. Brandts Haut war sehr verlebt, geschont hat er sich nicht, der Alkohol und die Zigaretten haben ihre Spuren hinterlassen, aber diese Süchte waren Ausdruck von Sehnsucht. Deshalb findet man auf der Haut auch all die seelischen Beschädigungen, die Niederlagen, die er hat einstecken müssen. Seine Haut war transparent, durchscheinend. Seine Haut konnte sehr erstarrt, fast gefroren wirken, das Gesicht war ganz maskenhaft, alles war schlaff, und die Gravitation zog das regelrecht nach unten. Dann aber, in Bruchteilen von Sekunden, explodierte etwas in ihm, und das Gesicht verwandelte sich, straffte sich, und Eruptionen von Fröhlichkeit traten nach außen. Ja, Willy Brandt konnte richtig ansteckend lachend, obwohl er gerade eben noch depressiv und völlig verschlossen gewirkt hatte.«
Der Politiker erwirbt sich im Laufe seines Lebens eine mediale Hülle, eine zweite Haut, eine ikonische Existenz. Bei einem charismatischen Politiker wie Brandt wird man, wenn man sich in den eigenen Erinnerungsarchiven auf die Suche begibt, auf Bilder oder einen Bildstreifen treffen, der uns seine historische Figur konserviert, Bilder, die ihn am Leben erhalten. Doch welche Beziehung existiert zwischen der medialen Hülle dieser Figur und seinem subjektiven Bewusstsein? Oder besser, präziser, wo treffen diese Bilder auf die Ausdrucks- und Aussagegestalt des Politikers, auf seinen Wesenskern? Lässt er seinen Körper in der Öffentlichkeit sprechen? Willy Brandt macht es dem Beobachter in dieser Hinsicht nicht so leicht wie Herbert Wehner, der in seinen Briefen, Interviews und Reden häufig den eigenen Körper in Stellung und zur Sprache bringt. Von früher Jugend an hat Wehner eine sehr expressive, bildhaft zugespitzte Sprache bemüht, um sich auszudrücken und mitzuteilen. In einem Interview aus dem Jahr 1964 sagt er über seine politischen Ambitionen: »In den Bundestag wollte ich nicht. Ich dachte, das braucht Zeit – und warum soll ich? Ich habe Kurt Schumacher gesagt: Sie werden mir doch dort von allen Seiten manchmal täglich bei lebendigem Leibe die Haut vom Leibe reißen. Ja, sagte er, das werden sie, aber das wirst du auch aushalten. So ging das. Und das habe ich manchmal so gefühlt, als wenn mir die Haut vom Leibe gezogen würde.« Wehner stilisiert sich hier in mythischer Tradition zur Marsyas-Figur, jenem Satyr, dem vom eifersüchtigen Gott Apollon die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen wurde, weil er sich erdreistet hatte, besser Flöte zu spielen als der olympische Gott.
Es würde wohl eine ganz eigene Studie erfordern, eine »Hautspur« im Werk von Willy Brandt zu entdecken, das ja zum einen aus einem gewaltigen Schriftwerk und zum anderen aus unzähligen performativen Akten besteht, also Sprechhandlungen, bei
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