Die Familie Willy Brandt (German Edition)
sie oft Richtung Norwegen verließ, stärker zu eigen. Vor allem mit ihm durchlebte sie die Bonner Jahre, während sich Lars in dieser Zeit von ihr entfernte und Peter in Berlin sein eigenes Leben lebte. Das »Nesthäkchen« brauchte sie, er war noch Brücke zwischen ihr und ihrem Mann, er füllte den Begriff Familie mit Leben, so wie er dieses komplizierte, verschwiegene, aber doch auch vielsprachige Haus mit Leben erfüllte. Sie war bedingungslos auf seiner Seite, aber sie erwartete auch, dass er seinen Weg ernst nahm und ihn ernsthaft beschritt. Dass ihre Kinder sich bildeten, dass sie etwas wurden, war ihr wichtig. Durfte ihr Jüngster sicher sein, dass sie seine Entscheidung, Schauspieler zu werden, begrüßte? Rut Brandt war ihren Söhnen eine sehr zugewandte, fürsorgliche Mutter, aber sie war eher eine fröhlich-patente Kameradin als eine emotionale Bergungsmacht und Rettungswacht. Sie war herzlich, auch liebevoll auf ihre Art, sie konnte aber auch sarkastisch sein, sie konnte Luftschlösser mit einer trockenen Bemerkung komplett entlüften, es fiel nicht leicht, ihr zu imponieren, und wenn sie etwas langweilte, sagte sie das frank und frei heraus, ohne ihre Ablehnung hinter verbaler Kosmetik zu verstecken. Man musste – auch als Sohn – vor ihrer ganz unsentimentalen Art auf der Hut sein. Es ist daher vielleicht ratsam, seinen zart keimenden Enthusiasmus für eine Idee erst einmal in aller Stille zu züchten und hochzuziehen, damit er sich nicht vor der Zeit behaupten und Kritik aussetzen muss.
Möglicherweise spielt aber ein anderes Motiv eine größere Rolle. Matthias Brandt war einige Jahre Medienliebling und gehörte zu den meistfotografierten Prominentenkindern der Bundesrepublik. Eine der frühesten Erinnerungen betrifft so eine inszenierte Szene. Das sechs- oder siebenjährige Kind besucht mit dem Vater Pützchens Markt, ein altes Bonner Volksfest. An einer Losbude darf das Kind tief in die Lostrommel greifen, zehn Lose werden gekauft. Die Fotografen zücken ihre Apparate. Niete um Niete um Niete. Nüscht. Kein Gewinn. Die Meute ist ungeduldig. Dem Kind wird die Lostrommel noch mal hingehalten, los, Junge, zieh! Und dann muss das Kind so lange ziehen, bis es etwas gewinnt, was die Presse entzückt. Ohne dass das Kind genau sagen kann, was ihm nicht behagt, ist das doch als Szene in unangenehmer Erinnerung geblieben.
Das Kind war bekannt, ohne eigenes Zutun. Matthias war der Sohn des Bundeskanzlers, der ohne Scheu auftrat. Es war die Zeit, bevor die Rote Armee Fraktion (RAF) durch ihre Anschläge ein Klima der Angst und ständigen Bedrohung schürte, und es war die Zeit, bevor Prominente mit Medienanwälten jede Berichterstattung über ihre Kinder zu deren Schutz unterbanden. Dieser Lebensabschnitt lag nun hinter Matthias, diese vielfotografierte, vielgefilmte Familie, in der er der Kanzlersohndarsteller war. Jetzt galt es, einen eigenen Weg zu finden, eine eigene Rolle außerhalb des inszenierten Familienbildes anzustreben. Dieses In-sich-selbst-Verschwinden, sich In-sich-selbst-Hineinwühlen, um sich aus etwas herauszuwühlen, sich absondern und in eine Materie, eine Idee, ein Projekt hineinkriechen, ist ein psychischer Vorgang, ein Selbstfindungsprozess, der allen Söhnen eigen ist. Peter, Lars, Matthias. In verschiedenen Graden müssen sie sich abschnüren vom Draußen, um sich – in einem selbstgesteckten Kosmos der kleinen Etappen und Schritte – auf ihre Wegmarken zu besinnen. Unter die Decke. Abdunkeln. Suchscheinwerfer einwärts. Die rasseln nicht mit dem Säbel, die marschieren nicht aufs Ziel los, sondern die Söhne betreten die Bühne vorsichtig vom Rand.
In diesen Schlupf- und Brutjahren, in dieser Phase, in der es in einem jungen Menschen gärt, ist Matthias Brandt mit Chun Mei Tan liiert, das Kind einer Holländerin und eines Chinesen, der in Bonn zwei legendäre China-Restaurants betrieb. Sie haben sich 1978 zusammengetan und bleiben drei Jahre ein Paar. Sie ist ein Energie- und Aufruhrbündel, Musterschülerin und Schülersprecherin, keine pflegeleichte Mitläuferin. Jammerland, denkt sie, als sie mit 16 Jahren nach Deutschland kommt. Sie hat keine glatte Biographie, aber sie beißt sich durch. Nicht glatt sein, rau sein, innerlich auf Achse, das kann Matthias Brandt teilen, obgleich sie sehr verschieden ticken. Chun Mei erinnert sich daran, dass auch Matthias sich von seinen Mitschülern absetzte. Die blutigen Tage des Deutschen Herbstes schockieren das Land. Ein
Weitere Kostenlose Bücher