Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Herbert Wehner studiert. Das Kind ist unbefangen, spielt nicht, bewegt sich, ist munter, rum um den Tisch, Kärtchen aufgedeckt, Erzählmündchen. Vater brummt: »Mach nicht den Kaspar!« Und gleich noch mal: »Hör auf mit der Kasperei!« Wer ist der Kaspar? Das Kind spielt Memory. Die Erwachsenen spielen das Memory-Spielen und spielen Familie und spielen Bürde-Amt-Land und spielen »Ein Bundeskanzler ist auch nur ein Mensch!«
Bundeskanzler Willy Brandt mit Frau Rut und Sohn Matthias im Urlaub in Norwegen (undatiert)
[picture alliance/NTB As Norsk Telegrambyra]
Was macht ein Kind, das in einem großen Haus lebt, in dem Menschen, die nicht zur Familie gehören (oder doch) merkwürdig verklumpen, sich sammeln und dann wieder zerstreut werden, was macht es, wenn die Familie sich nur selten kristallisiert und findet und sich dann in dem weitläufigen Haus wieder aus den Augen verliert, jeder in seinen Bezirk abwandert? Ein Haus, in dem der Vater fremd über den Flur schleicht, »Scheiße« vor sich hin murmelt, um sich dann hinter Büchern und Akten unsichtbar zu machen? Die folgende Episode erzählt Matthias Brandt mit unüberhörbarem Vergnügen: »Ich hatte als Kind, weil ich mich viel alleine mit mir beschäftigt habe, immer bestimmte Projekte am Laufen, zum Beispiel gab es das ›Zauberer-Projekt‹. Dafür habe ich in diesem seltsamen Haus das Zeug zusammengesucht, das ich brauchte. Ich wusste, dass mein Bruder Lars einen Zylinder besaß und dass im Schrank meines Vaters ein Frack hängt. Ich klaubte alles zusammen, und weil ich nun in einem Haushalt mit vielen Rauchern lebte, war der Weg zu diesem Experiment nicht weit. Ich halte mal das Feuerzeug an den Vorhang, da wird das Feuer so hoch züngeln, und oben, so nahm ich an, wird es wieder ausgehen. Also stieg ich in den Frack meines Vaters, setzte den Zylinder auf, schloss mich in meinem ziemlich weit abgelegenen Zimmer ein und probierte ein bisschen herum, was so ging. Leider gingen die Flammen nicht mehr aus, stattdessen brannte plötzlich der ganze Vorhang. Da kam ich auf die bemerkenswerte Idee, das Feuer mit meiner Fahrradpumpe auszupusten. So stand ich in Frack und Zylinder vor dem brennenden Vorhang und fachte das Feuer so richtig an. Als ich merkte, dass das zu nichts führt, beschloss ich erst einmal, gründlich über die Aktion nachzudenken. Ich verließ mein Zimmer, schloss es ab und dachte wirklich angestrengt nach. So ging ich in tiefen Gedanken langsam in Richtung Küche, wo meine Mutter und Litti das Abendessen zubereiteten. Ein bisschen dauerte es noch, bis ich damit herausrückte, dass mein Zimmer in Flammen steht und ob mal jemand kommen könnte. Ja, da war richtig was los! Es wurde vom Badezimmer meines Vaters, das auf der gegenüberliegenden Seite lag, eine Kette mit Eimern gebildet, auch ein Feuerlöscher, den mein Bruder Lars besaß, kam zum Einsatz, schließlich war das Feuer aus, und ich musste erst mal ausquartiert werden, weil das Zimmer unbewohnbar war.«
Über der ganzen Episode liegt ein Hauch von Lillebror und Karlsson, ein Astrid-Lindgren-Tonfall. Natürlich hat er das Buch der eigenen Tochter vorgelesen. Lillebror, sagt er, sei eine wichtige Identifikationsfigur für ihn gewesen. Eintauchen. Abtauchen. Wegdriften. Lillebror, ein ganz gewöhnlicher Junge, wie Lindgren schreibt, der aber von sich selbst sagt: »Ich bin überhaupt kein gewöhnlicher Lillebror!« Kann ein Bundeskanzlersohn ein gewöhnlicher Junge sein oder muss er den gewöhnlichen Jungen spielen, weil alles andere ohnehin ungewöhnlich genug ist? Willy Brandt ist durch die »Kaspereien« seines Sohnes kaum aus seinen grüblerischen Untiefen zum Aufstieg in den Alltag zu bitten, seine Frau jedoch hat eine Dauerkarte für die kleinen Vorstellungen ihres Sohnes, sie lässt sich gern zum Lachen bringen.
Für die Freunde des übersichtlich-geordneten Lebensweges findet sich die nächste unverbrüchliche So-wurde-ich-Schauspieler-Station im Leben des Matthias Brandt auf dem Nicolaus-Cusanus-Gymnasium in Bad Godesberg. Dort wird der Gymnasiast 1979 Mitglied der Theater-AG. Er belegt den »Grundkurs Literatur mit praktisch dramaturgischen Anteil«, so heißt der benotete Theaterkurs, den Monika Romain leitet. »Nein«, sagt seine Lehrerin, die selbst als Schülerin Theater spielte, »seine Note werde ich nicht verraten, auch dann nicht, wenn Matthias seine Zustimmung gibt. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass er ein verschmitzter Typ war, keiner, der sich so
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