Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Passivität dabei, man reagiert nur, anstatt sich aktiv auf die Suche zu machen und etwas auszusuchen.«
»Würden Sie rückblickend sagen, dass Sie konfliktscheu waren?«
»Mag sein.«
In der Nacht vom 28. September 1969 erledigte Willy Brandt den erledigten Willy Brandt. Er ließ den Verlierer Brandt hinter sich, er, der Lazarus, der zweimal als Kanzlerkandidat gescheitert war, griff beherzt nach der Macht, richtete den mutlosen Scheel auf, wischte die Bedenken des brummigen Herbert Wehner vom Tisch und sagte: »Ich werde der nächste Bundeskanzler!« Ein ähnliches Maß an Entschlossenheit legte Matthias Brandt an den Tag, als im Frühjahr 2002 der TV-Zweiteiler »Im Schatten der Macht« vorbereitet wurde. Der Regisseur Oliver Storz engagierte seinen alten Freund Hermann Schreiber als historischen Berater für das Projekt. Beide kannten sich seit den fünfziger Jahren, als sie zusammen bei der »Stuttgarter Zeitung« gearbeitet hatten. Der Journalist hatte Willy Brandt für den »Spiegel« jahrelang begleitet und einige der treffendsten Stücke über ihn geschrieben. Jetzt bereitete sich Schreiber noch einmal gewissenhaft auf die Rolle des Beraters vor und traf sich auch mit Matthias Brandt, um ihn um historische Eindrücke zu bitten, denn der Film sollte vor allem die Guillaume-Affäre und die letzten Wochen der Kanzlerschaft erzählen. Doch Matthias Brandt beschränkte sich bald nicht mehr auf die Rolle des Zeitzeugen, sondern sah die Chance, die in diesem Projekt für ihn lag. Als er das fertige Drehbuch las, frappierte ihn, wie undeutlich, wie unterbelichtet und unbesetzt die Figur des Spions war. Alle anderen Protagonisten, ob das nun Schmidt, Genscher oder Bahr waren, waren mit Bildern und Bezügen fixiert, waren fest im kollektiven Gedächtnis gespeichert. Nur Guillaume war eine Figur, die – aus der Sicht von Matthias Brandt – zu entdecken, die noch nicht gedeutet war.
Matthias Brandt, der bis dahin einige kleinere Rollen im Fernsehen übernommen hatte, fing an, um diese Rolle zu kämpfen. Er legte alle Scheu und Bedenken ab und griff zu. Hermann Schreiber vermittelte, arrangierte ein Treffen zwischen Storz und Matthias Brandt. »Beim ersten Zusammentreffen«, erinnert sich Schreiber, »sprachen die fast nur über Jazz. Oliver und ich gehören ja beide dem Jahrgang 1929 an und waren im ›Dritten Reich‹ Swingheinis. Da hatten die beiden ihr Thema gefunden. Es hat alle überrascht, dass Matthias den Guillaume spielen wollte. Natürlich hab ich ihn gefragt, warum willst du denn ausgerechnet den spielen? Er meinte, den kenne er am besten, er hätte ihn als Kind genau beobachtet, auch in dem gemeinsamen Norwegenurlaub 1973. Ich hatte aber nie das Gefühl, seine Motivation hätte irgendwas mit ›Vatermord‹ zu tun. Dass das eine wahnsinnige PR geben würde, war uns klar, bloß war es ja völlig unklar, in welche Richtung das gehen würde. Das hätte auch richtig schieflaufen können.« Storz und Matthias Brandt hatten einige Hürden zu überwinden. Der Sender und die Produktionsgesellschaft waren alles andere als begeistert, außerdem kannte Matthias Brandt kaum jemand. Auch Michael Mendl, der die Figur des Kanzlers übernahm, kannte seinen Kollegen nicht und war zunächst konsterniert über die Besetzung: »Ich dachte – und da war ich nicht der Einzige –, ist das Pressegeilheit, oder wie kommt man auf so eine Idee? Dieser Eindruck ist dann aber bei der Zusammenarbeit schnell verflogen. Matthias war sehr zurückgenommen, sehr konzentriert, sehr ruhig, ja, vielleicht auch introvertiert. Er war höflich, auch charmant. Wir haben am Set oft zusammen geraucht, auch schweigend, und das waren Momente mit einer guten Aura zwischen uns. Manchmal hatte ich den Eindruck, ihn ergreift eine kleine Trauer oder ein kleiner Zorn bei dieser Wiederbegegnung mit der Vergangenheit, aber da kann ich mich täuschen. Wenn ich ihn heute im Fernsehen sehe, freue ich mich, denn er geht inzwischen noch ganz andere und freiere Ausdruckswege als vor zehn Jahren.«
Oliver Storz hat Matthias Brandt geborgen. Er hat ihm Vertrauen geschenkt und ihn dennoch genau beobachtet und gefordert, und das ist das Beste, was ein Regisseur seinem Schauspieler zu geben hat. Die Frage, inwieweit Matthias Brandt seinen Vater symbolisch gemordet habe, indem er Guillaume verkörperte, will ich ein letztes Mal aufwerfen. Mir kommt der Gedanke reichlich albern vor, denn wer schießt schon Pfeile ins Grab? Andere Lesarten finde ich
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