Die Familie Willy Brandt (German Edition)
sicherlich auch in meiner Person begründet, aber es war schwierig für mich, immer diese Empfindung von Mangel auszuhalten. Es wäre für meine Entwicklung wichtig gewesen, dass da jemand genauer hinschaut und sich meiner annimmt.«
Rut Brandt hat den Weg ihres Sohnes aufmerksam verfolgt und ihn begleitet. Sie ließ es sich nicht nehmen, zu vielen Premieren anzureisen, zumindest dann, wenn Matthias größere Rollen übernahm. Willy Brandt hat seinen Sohn nur einmal am Theater erlebt. Es war im Frühjahr 1988. Der 7. Mai war ein Samstag, und Willy Brandt hatte an der Carl-von-Ossietzky-Universität eine Rede zu halten, die der Nobelpreiskampagne für den politischen Häftling galt. Brandt selbst hatte sich in Norwegen an dieser Kampagne beteiligt, er blickte an diesem Tag also weit zurück in das eigene Leben. Am Abend, um 19 Uhr 30, stand ein Besuch im Staatstheater auf dem Programm. Da dieser Termin sehr spontan zustande kam, war das Theater in heller Aufregung. Die hierarchischen Spitzen waren ausgeflogen, der Intendant und der Chefdramaturg verreist, wer würde den Altkanzler begrüßen? Schließlich fand sich der aus häuslicher Ruhe aufgeschreckte Verwaltungsleiter Wilfried Scholz. Auf dem Spielplan stand Arthur Millers »Hexenjagd«, keine Premiere, eine normale Repertoire-Vorstellung. Wilfried Scholz denkt gerne an diesen Abend zurück: »Es war wie bei einem Staatsbesuch. Ich nahm Willy Brandt in Empfang. Matthias hatte für ihn zwar Karten besorgt, aber das waren ganz normale Steuerkarten, dritter Rang oder so, und Matthias hatte die selbst bezahlt und nicht gesagt, für wen die sind. Die wurden mir dann kommentarlos von einem Sicherheitsbeamten zurückgegeben, und wir haben Brandt schließlich in der Loge des Großherzogs untergebracht, das war natürlich der beste Platz im Theater. In der Pause fragte ihn meine Frau, ob er nicht rauchen wollte, woraufhin er sagte: ›Müsste man nicht, könnte man aber.‹ Dann hat er in Windeseile drei Zigaretten geraucht. Ich fand, er besaß eine starke Aura.«
Zu Beginn der Vorstellung war das Publikum noch ganz aufgeregt gewesen, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, wer da oben saß, und die Köpfe drehten und wendeten sich, jeder wollte zumindest einmal den großen Mann gesehen haben. Aber im Laufe der Aufführung verflog die nervöse Unruhe, und alles ging seinen gewohnten Gang. Als der Vorhang fiel, brandete Applaus auf, das Ensemble verbeugte sich. Matthias hatte eine kleine Rolle, im Mittelpunkt des Interesses stand der Hauptdarsteller Rudolf Bellgrasch. Willy Brandt zog den Vorhang, der ihn vor den Blicken schützte, beiseite, stand auf und applaudierte Bellgrasch stehend. Standing Ovations!
Bellgrasch hat sich schon lange aus dem Beruf zurückgezogen und lebt seit Jahrzehnten auf der griechischen Insel Samothraki, sein Lebenstraum. »Dass Willy Brandt aufstand und mir applaudierte, er stand als Einziger, hat mich stolz gemacht. Ob ich abgelenkt war durch ihn oder die Publikumsreaktionen? Nein, wissen Sie: Wenn man die Hauptrolle spielt, ist das scheißegal, wer da sitzt – man spielt!«
Matthias Brandt war es nicht egal. Er fühlte sich beeinträchtigt, er ärgerte sich, dass der Vater alle Blicke auf sich gezogen hatte, weil er die Kollegen in ihrer Konzentration gestört glaubte. Es war ihm, der nicht als Brandt-Sohn auffallen wollte, unangenehm, ja nahezu peinlich. Sicher wollte er auch nicht auf seine Vergangenheit reduziert werden, wo er sich doch gerade eine Gegenwart erspielte. Er bat seinen Vater daher eindringlich, ihn mit solchen Besuchen bitte nicht mehr zu beehren. Der vieleingespannte Willy Brandt hielt sich daran.
Den größten Erfolg feierte Matthias Brandt in Oldenburg in George Taboris Stück »Mein Kampf«, das von Helm Bindseil inszeniert wurde und am 21. Mai 1989 Premiere hatte. Er spielt den jungen Obdachlosen Adolf Hitler, der in einem »Männerasyl« von Schlomo Herzl (Rudolf Bellgrasch) unter die fürsorglichen Fittiche genommen wird. Der Theaterfotograf Peter Kreier, der Matthias Brandt damals bei der Generalprobe fotografiert, ist beeindruckt: »Ich war natürlich gespannt, der Sohn des Bundeskanzlers als Hitler? Und dann hat es mir und einem Kollegen fast den Atem genommen, als wir ihn da spielen sahen. Das war Hitler! Er machte kein Monster aus ihm, sondern einen Menschen, ein ganz sympathischen Menschen, der aber auch dämonisch sein konnte. Mein Kollege ist Engländer und hatte als Kind noch die Bombardierung von
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