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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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verharrt, frage ich ihn, ob ich eine Rose abzwacken dürfe für das blumenlose Grab von Rut Brandt. Er betrachtet mich erstaunt, dann schaut er sich vorsichtig um, als stünde seine Karriere auf dem Spiel, zieht eine Blume aus dem Bouquet und gibt sie mir.

Charisma
Jahrelang habe ich ein Symbol in Deutschland gesucht, an das ich mich klammer. Jetzt kann ich mich an Willy Brandt halten.
Marlene Dietrich
    Was ist Charisma? Unsere mediale Vorstellung dessen, was Charisma ist, wird weniger durch Max Weber, sondern eher durch Hitler und Hollywood bestimmt. Hitler verkörpert die schwarze, die mörderische Variante des modernen Charisma-Bildes. Er, der destruktive Zerstörer, verführte ein Volk, mobilisierte es dank seiner charismatischen Fähigkeiten, stachelte, hetzte es auf, schwor es auf seine Gedanken ein und entfesselte unvorstellbare soziale Energien, die letztlich darauf hinausliefen, ein ganzes Land, vom Charisma betäubt, nahezu willenlos und hypnotisiert an den Rand des Abgrunds zu führen, in den Untergang, der Hölle entgegen. [4]  
    Die andere, die freundliche, die helle Variante unseres Charisma-Verständnisses ist durch die Traumfabrik geprägt. Jeder kennt diese Filme, wo es lange Zeit schlecht um eine gute Sache steht, wo aber im entscheidenden Augenblick ein gerechter Führer auftritt, zu der Masse spricht und die gute Sache mit unabweisbaren Argumenten zum Sieg führt. Es ist stets eine emotionale Rhetorik des Herzens, die alle Widerstände besiegt, die die phlegmatische Masse aufrührt und aus ihrem Zustand mörderischer Gleichgültigkeit reißt oder umgekehrt den Hass, das stets falsche Gefühl der Masse, entgiftet, abfließen lässt und eine kollektive Harmonie erzeugt, die Versöhnung stiftet zwischen Individuum und Gesellschaft.
    So weit Hitler, so weit Hollywood. So weit die naive, aber doch wirkungsmächtige Vorstellung vom Charisma, seiner Kraft und seiner Helden. Aber was machen wir mit Max Weber und Willy Brandt? Schließlich kommt, wenn von Willy Brandts Charisma die Rede ist, auch immer die Sprache auf Max Webers Begriffsbestimmung. Wie bringen wir sie zusammen? Der Soziologe Max Weber hat in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts säuberlich drei »reine Typen legitimer Herrschaft« unterschieden, wohlwissend, dass diese saubere, diese idealtypische Systematik in der Wirklichkeit nicht zu haben ist, aber in der Wissenschaft doch eine wünschenswerte Klarheit herstellt, eine Klarheit, mit der man dann wieder mit aufgeräumtem Blick auf die unordentliche Wirklichkeit sieht, in der sich durch Jahrhunderte die Herrschaftsformen auf komplexe Weise mischen. Max Weber sprach von der rationalen, der traditionalen und der charismatischen Herrschaft. Die rationale Herrschaft stütze sich auf rechtmäßige, allseits akzeptierte Ordnungen, die traditionale Herrschaft basiere auf dem Es-war-schon-immer-so, an den Glauben an das Es-war-schon-immer-so und an die autoritätsspendende Kraft des Es-war-schon-immer-so, und die charismatische Herrschaft beruhe darauf, dass die Menschen an die »Heiligkeit« oder »Heldenkraft« einer Person glauben, die mit dieser Kraft den Alltag außer Kraft setzt oder über ihn hinausreicht. War, ausgehend von dieser Bestimmung, Willy Brandt ein Held, eine Heiligkeit, an die die Menschen glaubten? War er nicht gebunden an Recht und Gesetz, an die Verfassung, an Institutionen, an Amt und Würde? Wo finden sich in einer modernen, postheroischen, massenmedialen Demokratie wie der Bundesrepublik Spielräume für charismatische Politik?
    Zum sechzigsten Geburtstag von Willy Brandt im Dezember 1973 erscheint ein schmales Büchlein unter dem Titel »Lieber Bundeskanzler, ich bin 8 Jahre und möchte Deine Freundin sein. Kinderbriefe an Willy Brandt« herausgegeben von Horst Jürgen Winkel. Das Buch bildet etwa 80 Kinderbriefe ab, eine Auswahl aus mehreren Tausend Kinderbriefen, die Willy Brandt seit 1969 erreicht hatten. Die Kinder schrieben zu seinem Amtsantritt 1969, sie schrieben zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1971 und sie schrieben anlässlich des konstruktiven Misstrauensvotums am 27. April 1972. Sie gratulierten, sie freuten sich, sie wünschten Kraft und Zuversicht. Sie tanzten vor Freude, sie lachten und weinten mit ihren Eltern, Tränen der Erleichterung, als der Herausforderer Rainer Barzel sein Ziel verfehlte, Brandt als Kanzler abzulösen. Tatsächlich wird aus den Kinderbriefen deutlich, worin die Kraft eines Charismatikers besteht und wie

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