Die Familie Willy Brandt (German Edition)
sie sich entfaltet. Die meisten Kinderbriefe gehen anlässlich des Misstrauensvotums im Kanzleramt ein. Der Charismatiker Brandt setzt den Alltag außer Kraft, denn plötzlich dürfen die Kinder abends lange vor dem Fernseher sitzen, sie dürfen während des Mittagessens ausnahmsweise Radio hören, ihre Eltern übersetzen ihnen die schwierigen Zeitungstexte, manche Kinder dürfen ein Schlückchen Sekt trinken. Die Kinder erleben und beschreiben, wie sich wildfremde Menschen in die Arme fallen, weil Brandt obsiegt, sie sehen ihre Eltern emotional wie nie, sie bekommen schulfrei, um die Debatte im Fernsehen verfolgen zu können, sie greifen zum Stift, um dem Kanzler zu schreiben und für ihn zu zeichnen. Sie beglückwünschen ihn, aber sie formulieren auch Wünsche. Sie wollen, dass er sich für mehr Kindergärten, mehr Spielplätze, weniger strenge Hausmeister und Lehrer einsetzt. Sie fordern mehr Geld für die Grundschulen, sie wollen mehr Taschengeld. Sie laden den Kanzler zu sich nach Hause ein, sie wollen durchaus großmütig ihr Sparschwein schlachten, um die Fahrtkosten zu übernehmen, sie vertrauen dem Kanzler manches Geheimnis an und verlassen sich auf seine Fürsprache.
Der Charismatiker Willy Brandt bewegt selbst die Kleinsten
[Horst Jürgen Winkel]
Was braucht ein Charismatiker wie Brandt in dieser Situation? Er braucht Menschen, die an seine Gestaltungskraft glauben. Er braucht Medien, die seine Botschaft und sein Bild verbreiten. Ja, eine Botschaft, eine Idee braucht es eben auch. Es braucht eine historische Situation, in der der Charismatiker agiert, und er braucht einen programmatischen Widersacher, den es zu besiegen gilt. Ohne Drama, ohne dramatische Situation existiert kein Charismatiker. Das Besondere an Brandts Charisma ist, dass sich bei ihm innere mit äußeren Dramen verbinden, dass sich seine individuellen Dispositionen mit kollektiven Bedürfnissen verschränken, dass er dem Land als Leidender und das Land ihm als Leidendes entgegentritt und man einander wechselseitig Heilung und Halt verspricht. Brandt ist zwar »nur« ein Politiker, aber die Hoffnungen und Sehnsüchte, die an ihn herangetragen werden, tragen deutlich messianische Züge. Lasst uns unsere Wunden zeigen, dann werden wir genesen! Diese nahezu spirituelle Erwartung korrespondierte aber mit einer ganzen Reihe von sehr viel handfesteren und profaneren Wünschen und Hoffnungen, die jedoch durch Brandts Charisma, durch seine besondere Ausstrahlung integriert werden konnten.
Das konstruktive Misstrauensvotum und die daraus resultierende Bundestagswahl 1972 sind ein charismatischer Höhe- und Wendepunkt in Willy Brandts Leben. Was Charisma bedeutet, was es bewegt, erinnere ich bis heute, wenn ich an die »Willy-Wählen-Kampagne« von 1972 denke. Ich war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt und wuchs im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg auf, der stets eine Hochburg der CDU war. Bei Landtags- und Bundestagswahlen erzielten die Konservativen Rekordergebnisse von über 70 Prozent, die SPD war eine nahezu nicht existente Größe. In Cloppenburg wurde Günter Grass 1965 bei seiner Wahlkampfrede für Willy Brandt mit Eiern und Tomaten beworfen, nur unter Polizeischutz gelang ihm der Abgang. Die Wirtschaft des Landkreises ist vor allem durch große bäuerliche Betriebe geprägt, die Menschen glauben hier katholisch, die Geburtenrate liegt weit über dem Bundesdurchschnitt. Hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht, hier stehen, so weit das Auge reicht, Kühe auf den Feldern und wo das Auge nicht hinreicht in den Ställen, in den großen Mastbetrieben stehen die Schweine oder hocken die Puten und Hühner. Landwirtschaftsland.
Ich fuhr mit meinem Vater und Heinz Grünfeld durch die Gemeinde Barßel, um Willy-Plakate zu kleben. Die beiden Männer waren im Vorstand des SPD-Ortsvereins, der gerade ein bisschen Auftrieb hatte, weil die Willy-Euphorie einige langhaarige und bärtige Junglehrer und Studenten samt Freundinnen zum Parteieintritt bewogen hatte. Ansonsten waren die Roten, ein trostloses Häuflein, umzingelt von Schwarzen. Heinz und mein Vater saßen vorne in dem VW-Bus, ich saß hinten inmitten von Wahlplakaten und Leimtöpfen. Was für ein Abenteuer! Mir war die verantwortungsvolle Rolle übertragen worden, darauf aufzupassen, dass der Leimtopf nicht umkippte, denn in dem VW-Bus lagen nicht nur die vielen gerollten SPD-Plakate, sondern vor allem die in Papier eingeschlagenen Wäschepakete, die Herr Grünfeld als Inhaber einer
Weitere Kostenlose Bücher