Die Familie Willy Brandt (German Edition)
mit guten Wünschen zum neuen Jahr erhielt sie im Dezember 1983.« Ich hätte gerne gewusst, wie der Salon hieß.
Ich verlasse das Museum und schlendere über den Marktplatz in Unkel. Vor dem Café am Markt stehen drei ältere Herren und essen Eis. Wir kommen miteinander ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass einer von ihnen der Zahnarzt von Willy Brandt in Unkel war. Eines Tages kam Brandt mit Zahnschmerzen zu ihm in die Praxis. Ein Zahn musste gezogen werden. Was aber macht man nun mit dem Zahn einen großen Mannes? Wirft man ihn weg? Der Zahnarzt beschloss, ihn aufzubewahren, und legte ihn in eine Formaldehyd-Lösung, die ihn konservieren sollte. Doch als der Konservator einige Tage später nach seinem Schützling sehen wollte, war er verschwunden. Das Formaldehyd war zu aggressiv und hatte den Zahn zerstört.
Der Austernfischer
Bevor ich Harold Hurwitz kennenlernte, lernte ich seinen Grabstein kennen. Als ich auf dem Waldfriedhof Zehlendorf das Grab Willy Brandts suchte, fiel mir in unmittelbarer Nähe zu diesem sein Grab auf. »Harold Hurwitz« stand auf dem Stein, gleich unter dem Namen seiner Frau Margarete. Während bei ihr das Geburts- und Sterbedatum eingraviert waren, fehlte bei ihm das Sterbedatum, was mich nicht wunderte, denn wir hatten uns wenige Tage zuvor zum Interview verabredet. Der Amerikaner Hurwitz kam 1946 nach Berlin, um in Bayern seine Doktorarbeit zu schreiben. Doch Berlin hatte es ihm angetan. Hier verliebte er sich in seine Frau Margarete, hier wurde er Soziologe, hier wurde er Mitarbeiter von Ernst Reuter und Willy Brandt, mit dem er sich anfreundete. Familie Hurwitz fuhr mit den Brandts in Urlaub, Harold brachte Lars das Schwimmen bei und schenkte Peter historische Bücher.
Einmal im Jahr fuhr der Soziologe in seine Heimat und fischte Austern. Er liebte es, im Meer zu stehen und die Austern mit einem Rechen einzuholen. Es ist eine anstrengende Arbeit. Davon erzählte er auch, als ich ihn besuchte. Er war bereits schwerkrank, aber er dachte gerne zurück. »Wo gehöre ich hin? Das war eine große Frage für Willy. Wo gehöre ich hin?« Zweimal kamen ihm während unseres Gesprächs die Tränen, einmal als sein Blick auf das Bild seiner verstorbenen Frau fiel, das andere Mal als er von Brandts Kniefall sprach. Lars Brandt hat 1998 einen schönen Dokumentarfilm über »The Berliner Freund« gedreht, der zeigt, was der amerikanische Jude Hurwitz dem paralysierten Deutschland geschenkt hat: demokratische Seele, großes Gefühl. Er war ein Freund der ganzen Familie. Wenige Wochen nach unserem Gespräch starb er.
Als Harold Hurwitz am 12. Juni 2012 auf dem Waldfriedhof beerdigt wird, stehen Peter, Lars und Matthias an seinem Grab und blicken zurück.
Dominik Graf schreibt einen Brief
»Lieber Herr Körner, Sie fragen nach Matthias Brandt. Er ist in jeder Hinsicht eine singuläre Persönlichkeit in der Landschaft. Er ist Denker und Fühler und Spieler in einem. Er ist Enthusiast und Skeptiker gleichzeitig. Sein Spiel lebt vom kreativen Konflikt zweier widerstrebender Grundbewegungen darin. Einmal ist er der von ihm sehr verehrten Nachkriegs-Schauspielerei zugeneigt, jenem typischen BRD-Understatement, das wir aus den phantastischen deutschen Filmen und Serien der 6oer kennen. Eine Art brandneue Sachlichkeit im germanischen Schauspiel wurde damals erfunden, die der Zurücknahme und dem herrlichen Misstrauen allen großen Gefühlen gegenüber zu verdanken war. Nach dem völkischen Irrsinn wurde der Ball erst mal 40 Jahre lang angenehm flachgehalten im deutschen Schauspiel, auf den Avantgardebühnen und auch erfreulich häufig im Kino (nur nicht im triumphierenden Heimatfilm und im deutschen Lustspiel, aber deren Darstellungs-Stile nehmen wir ja heute auch genau deswegen als besonders »alt« wahr).
Seine Momente des zutiefst Knappen und des Emotions-Geminderten auf sozusagen engstem darstellerischem Raum machen Matthias Brandt oft so besonders wahrhaftig und so besonders interessant undurchsichtig. Schon wieder ein Widerspruch. Ich denke aber, darin findet sich bei ihm eine Art BRD-Gefühls-Genealogie, vererbt von den Vätern zu den Söhnen, ein Erbe, das er tief verinnerlicht hat. Darüber hinaus hat er sehr viel Humor, der wunderbar trocken daherkommt und dann oft mit einem glücklichen, fröhlichen Lachen hintendran endet.
Und es gibt auch noch ein melodramatisches Spiel bei ihm, oft aus dem Mitgefühl für andere Charaktere in den Filmen entstehend wie beispielsweise dem
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