Die Familie Willy Brandt (German Edition)
derer, die der Aufbruch in der Bildungspolitik und im Hochschulausbau interessierte; da waren die jungen Leute, die von der Amnestie für die Demonstranten von 1968, von Heinemanns Offenheit und Brandts souveränem Umgang mit dem Rebell in der Familie, Peter Brandt, beeindruckt waren; da gab es die Architekten und Stadtplaner, die vom Städtebauförderungsgesetz, der geplanten Bodenrechtsreform und der fachlichen Kompetenz Hans Koschnicks und Hans-Jochen Vogels angetan waren; hinzu kamen jene, für die Umweltschutz eine wichtige Zukunftsaufgabe war; die Tierschützer, die unter ihren Anhängern für Mitglieder warben; ältere Menschen, die wegen der flexiblen Altersgrenze wieder Hoffnung hatten, von ihrem Alter noch etwas zu haben; jene Juristen, die mit Heinemann und Ehmke für ein modernes Strafrecht gekämpft hatten, waren wichtig, genauso wie die Selbständigen, für die die Rentenversicherung geöffnet worden war; da waren alle, die sich über die Ungerechtigkeiten des Steuersystems, wie z.B. die Kindersteuerfreibeträge, ärgerten; und dazu kamen viele Wählerinnen und Wähler aus dem christlichen Bürgertum, die von Willy Brandts Kniefall in Warschau beeindruckt waren; usw. usf. Erst dadurch, dass die SPD alle diese Gruppen und Grüppchen angesprochen hatte, wurde Prozent für Zehntelprozent das Endergebnis von 45,8% möglich.«
Die Liste der anklingenden Themen ist lang, und sie ließe sich leicht verlängern, so gehört zu Brandts Charisma zweifellos das Image seiner Frau Rut dazu, die weit ins bürgerliche Lager hinein Sympathien selbst bei solchen Wählern erzielte, die ihren Mann strikt ablehnten. Aus dieser Übersicht der ansprechenden und die Wähler gewinnenden Botschaften sticht zweierlei hervor: Ein Charismatiker reduziert Komplexität und simplifiziert verwickelte Themen so, dass sie auch einen Platz in der Öffentlichkeit finden, und er bindet Konkurrenten und Rivalen (etwa Helmut Schmidt und Erhardt Eppler) gerade so ein, dass nur ihm allein die Führung dieser Antipoden zugetraut wird, und erst durch ihn und nur durch ihn, finden diese zu ihrer höchsten Kraft und zu einem gedeihlichen Miteinander. Dass die kühl-autoritäre »Effizienz« Helmut Schmidt und der friedensbewegte Visionär Erhard Eppler ohne den ausgleichenden Charismatiker nicht miteinander klarkamen, wurde nach Brandts Rücktritt rasch deutlich.
Es lohnt, an dieser Stelle zwischen konstruktivem Misstrauensvotum und Willy-Wahl noch einmal innezuhalten, um Brandts charismatische Qualität, aber auch sein daraus resultierendes persönliches Handicap zu betrachten. Als sich nach dem Misstrauensvotum ein Land in den Armen liegt, das Fernsehen zeigt jubelnde Menschen, die Mitglieder der SPD-Fraktion wissen vor Freude gar nicht, wie ihnen geschieht, geht Brandt mit versteinertem Gesicht durch das Bundeshaus, verkneift sich jede triumphale Geste, unterdrückt selbst den Anflug eines Lächelns. Er strahlt in diesen Momenten Distanz und Ferne aus, doch in den darauffolgenden Monaten, Neuwahlen sind angesetzt, gebiert sein Charisma jene Fernwärme, die die Menschen mitreißt. Millionen von orangefarbenen »Willy-wählen-Buttons« sind in Umlauf, gütig und entspannt blickt der Kanzler von den Plakaten herab, Prominente wie Inge Meysel, Heinrich Böll oder Hardy Krüger erheben die Stimme für den Kanzler, die Sozialdemokratische Wählerinitiative um Günter Grass trommelt werbend landauf, landab, der Kabarettist Dieter Hildebrandt wirbt in Hörfunkspots, und Michael Pfleghar, der beste Fernsehshow-Regisseur seiner Zeit (»Wünsch Dir was«, »Klimbim«) inszenierte eine Reihe von emotionalisierenden Fernsehspots. Während die SPD-Anhänger im wahrsten Sinne Farbe bekennen, miteinander sprechen, die Öffentlichkeit jenseits der Medien auch schaffen, versinken die Anhänger der CDU in der berühmt-berüchtigten »Schweigespirale« (Elisabeth Noelle-Neumann), weil ihr Kandidat keine Aufbruchsstimmung und charismatische Bewegung erzeugt. Die Willy-Wähler machen aus ihrer Confessio spontane kleine Begegnungskirchen, fremde Menschen finden für Augenblicke zueinander, die Brandt-Anhänger erkennen einander an Aufklebern und Buttons, und schnell ist man sich einig, dass es auf dich und dich, also auf uns ankommt an diesem Tag.
Auch die Journalistin Wibke Bruhns hat den Eindruck, dass es auf sie ankommt, sie engagiert sich in der Sozialdemokratischen Wählerinitiative. Dreißig Jahre nach Brandts Rücktritt erinnert sie sich im »Stern«, wie
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