Die Familie Willy Brandt (German Edition)
schwerverletzten Terroristen Sebastian Urzendowsky gegenüber in Steinbichlers »Denn sie wissen nicht, was sie tun …« Ab der sogenannten »Wende«, dem Anschluss Ost-Deutschlands ans West-Kapital, war ja dann wieder Schluss mit dem Understatement. Deutschland jubelte seitdem unaufhörlich, Beckenbauer versprach für Jahrzehnte deutschen Fußball an der Weltspitze – und auch die Schauspieler mussten – zunächst den Privatsendern zuliebe, dann auch für die Gebührensender – »große« Emotion zeigen.
Intelligente Darsteller entziehen sich solchen platten Zumutungen, suchen andere Rollen und Darstellungsformen und reüssieren trotzdem beim Publikum – oder gerade deswegen. Matthias Brandt zeigt in den Momenten des Melodramatischen Dunkelheit, manchmal auch Skurrilität oder eine sympathische Ungelenkheit im Mitgefühl. Oliver Storz sagte über Michael Mendls Willy-Brandt-Darstellung in seinem »Schatten der Macht«, Mendl könne sehr gut den »Schatten« spielen, der plötzlich bei Brandt zwischen ihn und die Welt gefallen sei. Diese »Abwesenheit« – gewissermaßen bei ansonsten klarem Himmel –, diese schlagartige Vereinzeltheit zeichnet auch jene Kommissarsfigur aus, die Matthias Brandt seit wenigen Jahren spielt, den wunderbar sinistren »Hans von Meuffels«.
Niemals aber benutzt Matthias Brandt bei den melodramatischen Augenblicken ein Spiel-Klischee, immer ist alles bei ihm wie neu. In Jan Bonnys grandiosem Polizeiruf nach dem Günter-Schütter-Drehbuch »Der Tod macht Engel aus uns allen« wird man die Brandt’sche Empathie noch mal ganz neu sehen können, diesmal auch wieder einem Ausgestoßenen, einem Transsexuellen (Lars Eidinger) gegenüber.
Überhaupt muss man sagen, dass – vom Guillaume »Im Schatten der Macht« über seinen anderen düsteren Geheimdienstmann Erler im fabelhaften »Stich des Skorpion« – alle anderen Rollen bis heute in diesem Polizeiruf in jeglichen Facetten eingefangen sind und aus meiner Sicht dort einen bisherigen filmischen Höhepunkt erreicht haben.«
Bär am Fenster
Der Bär sitzt klein und zart und zerbrechlich in seinem Sessel am Fenster und schaut hinaus. Er hält ein Glas Sekt in der Hand, aber zum Feiern ist diesem Bär aus Moll & Melancholie keineswegs zumute. Der will nichts wissen, von der Feder-, Fell-, Stachel- und Borstenschar, die sich herandrängt, alle Tiere sind schon da, Schwein, Krokodil, Affe, Schlange, Katze, Fisch und weiteres animalisches Party-Gelichter. Komische Tiere, haben Menschenhände, klatschen Beifall und erinnern an die Wilden Kerle von Maurice Sendak. Der Bär ist ein großes kleines unverstandenes Tier, die anderen Tiere lächeln oder grinsen einfältig, der Bär hingegen weiß mehr.
Traurig sitzt der Bär am Fenster. So sah der Maler Michael Sowa Willy Brandt an seinem 65. Geburtstag.
[Michael Sowa]
Die Zeichnung ist von Michael Sowa. Peter Brandt, der mit dem Maler gut bekannt ist, hatte ihn gebeten, zum fünfundsechzigsten Geburtstag seines Vaters eine Zeichnung anzufertigen. Das Bild ist vielleicht eines der schönsten Porträts von Willy Brandt überhaupt, weil es die Stimmung des Bären in jenen Monaten trifft. Zum Feiern war ihm nicht zumute, große SPD-Party abgesagt. Herzinfarkt, Ehekrise, Parteikrise, Ich-Krise, der Bär hat den Blues. Oh, diese dämliche Bande!
Willy Brandt soll das Bild sehr gefallen haben. Es hing in seiner Wohnung in Unkel.
Blumendiebe
Es ist sein zwanzigster Todestag. Die Fotografen und Kameraleute stehen schon ungeduldig an Willy Brandts Grab. Endlich tut sich was! Da hinten kommen sie den Weg herauf, die Parteispitze rückt an. Ich sehe Peer Steinbrück, Klaus Wowereit, Andrea Nahles, Peter Struck, Wolfgang Thierse. Die Kameras werden geschultert. Die Partei nimmt Haltung an. Gedenkminutengesichter. Zwei große Kranzgestecke sind aufgerichtet, rote Rosen, rote Nelken. Dann kehrt das Geschwader um. Die Kameras und Mikrophone an langen Stangen wie Angeln nebenher. Sie verlassen den Friedhof nicht direkt, sondern laufen einen kleinen Umweg, biegen in einen schmalen Pfad und bleiben kurz vor dem Grab von Rut Brandt stehen. Keine Blume, nirgends. Dann sind sie verschwunden. Ich gehe zu Brandts Grab zurück. Lokale Parteiprominenz ist noch versammelt. Die SPD Zehlendorf stiftet zwei rote Sitzbänke für Willy Brandt. Der Berliner Landesvorsitzende hält eine Rede, Nelken werden auf die Bank gelegt. Als der hochgewachsene Mann mit dem kahlrasierten Schädel noch ein bisschen am Grab
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