Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Wäscherei auszufahren hatte. Daher verbindet sich die Erinnerung an diesen Wahlkampf für mich immer mit dem Geruch frisch gewaschener und gestärkter Wäsche. Mir ist nur weniges aus diesen Jahren erinnerlich, aber mir steht klar vor Augen, wie wir die Plakate an Laternenmasten befestigten, wie die Erwachsenen die Leiter hochstiegen, und wie ich unten stand und die Leiter halten musste. Und dieses Gesicht, dieses Brandt-Gesicht erinnere ich, zu dem ich ja wiederholt aufsehen musste. Mild und gütig lächelnd, irgendwie ein netter Typ, der auch dem Kind wie mir so etwas wie Vertrauen einflößte. »Willy Brandt muss Kanzler bleiben!« Dass der ein »Guter« ist und dass der »Andere« ein Gegner ist, ein »Schlimmer«, das hat sich als Gefühl in mir noch erhalten. Wir leisten hier etwas Außerordentliches! Es kommt darauf an! Es kommt auf uns an! Von Heinz Grünfeld bekam ich eine Mark, zu Hause eine Tafel Schokolade, klar, ich musste gerade etwas Ungewöhnliches geleistet haben. Die Erwachsenen strahlten so ein Missionsgefühl aus, so eine Dringlichkeit, die ich danach selten erlebt habe, eine Dringlichkeit, die mich einschloss und an der ich teilnahm, weil sie vermutlich auch mir zu erklären versuchten, warum es wichtig sei, dass dieser Mann siegte. An den Ausgang der Wahl erinnere ich mich nicht mehr.
Mein Vater engagierte sich für die SPD, weil er Brandts Entspannungspolitik favorisierte. Seine Mutter lebte in Polen, die Mutter meiner Mutter lebte in Leipzig, so dass wir als Familie unmittelbar von den ausgehandelten Reiseerleichterungen in den Sommerferien profitieren. Und da meine Eltern 1960 aus der DDR geflohen waren, bedeutete Brandts Ostpolitik auch, dass sich für meine Familie wieder ein Raum auftat, der bis dahin aus Angst vor Vergeltung verschlossen war. Nach dem Inkrafttreten des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages 1973 fuhren meine Mutter und ich im Sommer 1974 das erste Mal nach der Flucht wieder in die DDR, zuerst einmal ohne meinen Vater, der Frau und Kind quasi als »Testballon« in den Zug nach Leipzig setzte. Er misstraute den DDR-Behörden weiterhin.
So entspannt und wissend lächelt ein gütiger Bundeskanzlerübervater, Wahlplakat 1972.
[Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung/Harry Walter]
Das außenpolitische Thema Entspannungspolitik war sicher das zentrale Thema des Wahlkampfes, und es war die zentrale Botschaft des Charismatikers Willy Brandt, aber im Aufmerksamkeitsschatten dieser Zentralbotschaft blühten andere Themen und andere Figuren, die vielleicht keine Charismatiker waren, die eher als »Effizienzen« [5] gelten konnten, die aber doch ein Team bildeten, das ohne die verbindende Gestalt und charismatische Kraft Willy Brandts nicht zusammengefunden und zusammengehalten hätte. Erst der Charismatiker bindet also ein Team, seine Jünger, er bündelt ihre Themen und schafft es, zum Teil widerstreitende Ansätze zu einem geschlossen wirkenden Programm und rivalisierende Köpfe zu einer Gemeinschaft zu synthetisieren. Um dieses Programm in die Öffentlichkeit zu tragen, benötigt der Charismatiker in der Mediengesellschaft wiederum ein Wahlkampfteam, das die Aura des Charismatikers ins Land, zu den Leuten transportiert und seine Präsenz im Land fühlbar macht. Albrecht Müller war 1972 für den Wahlkampf der SPD verantwortlich, und er hat in einer eindrucksvollen Studie »Willy wählen 72. Siege kann man machen« aufgezeigt, wie viele Faktoren und Ebenen zusammenspielen müssen, damit das Charisma des Kandidaten seine Wirkung entfalten und durchdringen kann. Im Gefolge des Charismatikers und seiner charismatischen Botschaft (Entspannung, Familienzusammenführung) entwickeln auch unter- und nebengeordnete Themen und Köpfe Attraktivität. Der Charismatiker und seine »Jünger« bilden eine leuchtende Gemeinschaft.
Albrecht Müller hat diese verschiedenen Anziehungskräfte folgendermaßen beschrieben: »In Bezug auf 1972 heißt das, dass auf eine Basisscheibe von geschätzten 25–30% typischen und eingefleischten SPD-Anhängern (Arbeitnehmer mit gewerkschaftlicher Bindung und sozialdemokratischer Familientradition) eine ganze Fülle kleinerer Scheibchen aufgeschichtet werden musste: Da gab es Bundeswehrangehörige und ihre Familien, die am Wahltag zuallererst an Helmut Schmidts Arbeit als Verteidigungsminister dachten; da war die Gruppe derer, die von Erhard Eppler und seinen entwicklungspolitischen Vorstellungen angesprochen wurde; dann die Gruppe
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