Die Familie Willy Brandt (German Edition)
selber gehe.«
Vermutlich hat Willy Brandt das Unkeler Original Marlies Werheit, die von den Unkeler Bürgern meistens »et Müllers Marlies« genannt wurde, nicht gekannt. Zwar ließ er sich in Unkel nieder, aber undurchschaubar blieb, welcher Teil seiner Existenz sich hier aufhielt, ob und wie er hier anwurzelte oder ob das kleine Städtchen am Rhein nur ein strategisch günstiger Ort war, weil er nah und doch auch sehr weit von Bonn entfernt lag. Klaus-Henning Rosen, der Leiter von Brandts persönlichem Büro, hatte dem Alt-Kanzler Unkel vorgeschlagen, nachdem der ihn 1979 mit der Wohnungssuche beauftragt hatte. Zufällig war eine Penthousewohnung in der Unkeler Eschenbrenderstraße frei, die Wohnungssuche hätte auch in anderen Orten am Rhein enden können. Nun also Unkel. Das 1972 erbaute Atrium-Haus hat zwar ein eigenes Schwimmbad, aber sein architektonischer Charme ist begrenzt, von außen wirkt es so, als würden Menschen in diesem Schubladenbau eher aufbewahrt als leben. Unten am Klingelschild war Brandts Name nicht zu finden. Stattdessen steht auf dem Klingelschild »Dr. Müller«, ein Umstand, der Brandts Kinder amüsiert. »Wir gehen jetzt Dr. Müller besuchen«, sagen sie, wenn sie ihren Vater besuchen wollen. Morgens wurde der SPD-Vorsitzende von schweren Limousinen abgeholt, abends brachte man ihn wieder zurück. Eine halbe Stunde später verließ er dann in bequemer Strickjacke das Haus und spazierte ohne Personenschutz zum Rhein hinunter, niemand sprach ihn an. Er ging hier gern spazieren, versonnen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Dann schaute er so tief in sich hinein, dass er viele Leute, die ihn grüßten, gar nicht sah, und mancher hielt ihn daher für hochmütig und abweisend. Wehmütig und abwesend wäre wohl treffender gewesen. Als Willy Brandt am 8. Oktober 1992 starb, hatte er nicht lange Zeit, sich von seinem Haus zu verabschieden. Die Bestatter trugen den Sarg noch am selben Abend hinaus und fuhren ihn in die Unkeler Leichenhalle, wo bereits eine andere Mitbürgerin aufgebahrt war. Änne Terwesten war allgemein bekannt und geschätzt für ihren rheinischen Humor, für ihren trockenen Witz. Sie soll auf dem Unkeler Friedhof beerdigt werden, Willy Brandt hingegen zieht es nach Berlin. Als Müller Marlies hört, wer da neben wem in der Leichenhalle liegt, der berühmte Mann und die unbekannte Frau, entfährt ihr unwillkürlich die folgende Bemerkung: »Dat hätt et Änni sich och nit drühme losse, dat se ens Naach mimm Willy Brandt zosamme verbringe däht.«
Die Häuser, in denen Willy Brandt lebte, haben ihre Besitzer gewechselt, wurden verkauft, verändert, umgebaut. Stadt und Land sind hoch verschuldet, die Immobilien müssen veräußert werden.
Wer im Haus in der Trabener Straße 74 wohnt, weiß ich nicht.
Im Marinesteig 9 wohnt ein Ministerialrat a.D.
Im Marinesteig 14 wohnt ein Zahnmediziner.
In der Taubertstraße 19 wohnt ein Rechtswissenschaftler.
Im Kiefernweg 12 wohnt ein Chirurg.
In seinem letzten Haus wohnt nun ein Manager.
Und im Haus, das Willy heißt?
Willy Brandt steht eher am Rand. Hatte man Furcht, ihn in die Mitte des Raumes zu stellen? Er steht vor dem gläsernen Aufzug, als sei das Aufwärts eine Option. Atheist war Brandt nicht, eher Agnostiker, ein verhalten Neugieriger. Kommt noch was? Kam doch noch immer was. Die eine Hand leger in der Hosentasche. Die andere, groß wie eine Macht an sich, schwebt über einem Meer von Möglichkeiten, und zugleich weist sie den Weg, doch nicht direkt, nicht auf kürzestem Weg, sie zielt ins Ungewisse, ins zu Wagende. Geht er, steht er, schreitet er, beugt sich sein Knie, steht er im Fluss wie ein Christophorus? Und wer sitzt dann auf seinen Schultern? Da müht sich einer zwischen Frage- und Ausrufezeichen, da spendet einer Halt, weil er sucht, da schlägt wohl noch ein Herz, und das ist nicht aus Bronze. Ein Machtmensch ist der nicht, aber eine Macht geht zweifellos von dieser Skulptur aus, weil da kein Herrscher steht, auf dessen Mantel aus Größe und Gewalt despektierlich die Tauben scheißen, sondern einer, der Wege sucht für alle. Dass man auf diesem Weg Wunden und Falten sammelt, dass man am Ende ganz zerknittert aussieht und windgeschüttelt, gehört zu seiner Reise.
Verwachsene Pfade
Das Leben ist kein Kinofilm, auch wenn es sich manchmal so anfühlt, auch wenn es manchmal so klingt, wenn uns jemand eine Geschichte erzählt, die anrührend ist wie ein Film.
»Zuletzt«, sagt Peter Brandt,
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