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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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ins Bild zu setzen. Alles online! Während die Mitarbeiter der Parteizentrale in ihren digitalen und transparenten Zellen sitzen und in Windeseile Netze knüpfen, mit einem Mausklick hierhin und dorthin segeln, um sich in rasender Gegenwart zu behaupten, steht der »Alte« unverrückbar in Bronze gegossen im Hof. Ist er ein Anker, ein Rettungsanker? Oder doch ein Altar?
    Willy Brandt wuchs im »familiären Chaos« auf. Der Großvater, ein »Agitator«, ist seine wichtigste Bezugsperson. Bei ihm wächst er auf, zu ihm zieht er, als der Kriegsheimkehrer eine moderne Zweizimmerwohnung in der Lübecker Trappenstraße 11a bezieht, zu der auch eine sechs Quadratmeter große Dachkammer mit Fenster zum Hof gehört. Da richtet sich der Knabe Willy Brandt ein, hier wickelt er sich in Pläne und zukünftige Projekte, hier schreibt er seine ersten Artikel, memoriert seine frühen Reden, hier studiert er Bücher auf der Suche nach einem politischen und persönlichen Weg. Die Dachkammer als Zufluchtsstätte und Brutkammer des sich entwickelnden jungen Mannes schleppt er ein Leben lang mit sich herum. Ein Raum, gerade groß genug, um darin zu stehen, reicht ihm aus, um auszuschreiten. Wer den Hütten Frieden und den Palästen Krieg wünscht, für den ist die Dachkammer kein Ort, an dem man sich beengt fühlt, hier sucht und sehnt es sich gerade richtig.
    Der deutsche Politiker war noch nie ein Prunkdarsteller, die Republik nach 1945 erzog ihre Kanzler zu Bescheidenheit, meistens waren sie es ohnehin. Das Adenauer-Haus in Rhöndorf hat es ins kollektive Gedächtnis geschafft, weil der »Alte« hier seine Rosen züchtete, weil dieses Haus für Bonn als Regierungssitz plädierte, aber als Haus ist es ein Haus wie tausend andere auch. Heute ist es ein Museum, es kann besichtigt werden, die Räume sind niedrig und die Möbel sperrig. Dass ausgerechnet der gemütvolle Pykniker Ludwig Erhard dem Architekten Sep Ruf den Auftrag erteilte, in Bonn einen sachlich-kühlen Kanzlerbungalow zu entwerfen, vermag man sich kaum vorzustellen. Als der Kanzler 1964 in den minimalistisch gehaltenen Bungalow einzog, ätzte Adenauer über den Architekten: »er verdient zehn Jahre«. Erhard gab sich davon unbeeindruckt und ließ bei seinem Einzug wissen: »Man lernt mich besser kennen, wenn man sich in diesem Haus umsieht, als wenn man mich eine politische Rede halten sieht.« Das hätte Willy Brandt sicherlich nie gesagt, denn seine Persönlichkeit suchte nach politischer Architektur, nicht nach Häusern als Persönlichkeitsstudie. Aus praktischen Erwägungen lehnte er es ab, in den Kanzlerbungalow zu ziehen, Rut und die Kinder fühlten sich wohl auf dem Venusberg. Während Kanzler wie Kiesinger, Kohl und Schmidt hier einzogen, blieb Brandt in der Villa des Außenministers. Allerdings war Willy Brandt auch der einzige Kanzler der Bundesrepublik, der kein eigenes Haus besaß, der nie ein Haus gebaut, der privat immer auf Abruf gelebt hatte. Die anderen hatten ein Heim gekauft oder gebaut, für sich und die Familie, einen Gegenort zur Politik, Brandt hingegen war immer weitergezogen, die Häuser waren austauschbar, nur die Dachkammer stets im Gepäck.
    Als Willy Brandt 1989 das erste Mal in ein Haus zog, das ihm gehörte, das nach seinen Vorstellungen gebaut worden war, war er 76 Jahre alt. Es sollte seiner Frau gefallen, er wollte ihr eine Freude machen, für ihn war das kein Lebenswunsch. Das Haus sollte in die Landschaft passen, es wurde ein großzügiges Einfamilienhaus, heller Kalksandstein, ein Satteldach. Den Architekten hatte man gleich vor Ort in Unkel gefunden, an architektonische Ewigkeit war nicht gedacht, eher sollte das Haus unauffällig sein, nicht hervorstechen. Willy Brandts Arbeitszimmer im Erdgeschoss lag zur Straße hin, vom Wohn- und Essbereich sah man auf den Rhein. Viel Zeit war ihm hier nicht vergönnt. In den Monaten und Wochen vor seinem Tod verlässt er das Haus nicht mehr. Der alte sterbende Mann verwandelt sich noch einmal in den Jungen, der sich in der Lübecker Trappenstraße 11a in die Welt hineingelesen hatte. Jetzt – immer nach Halt, nach Welt und Trost suchend – las er sich aus ihr heraus und in sie hinein. Wieder und wieder griff er zu Heine, zu Gedichten wie »Babylonische Sorgen«, das Heine schon sterbenskrank »aus seiner Matratzengruft« in die Welt geworfen hatte:
»In meinem Hirne rumort es und knackt,
Ich glaube, da wird ein Koffer gepackt.
Und mein Verstand reist ab – o wehe –
Noch früher als ich

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