Die Familie Willy Brandt (German Edition)
konzentrieren. Das war Brandts »Heilige Familie«: Ein dienender, den Vater antreibender Ziehsohn, ein loyaler Freund, der ihm seinen beträchtlichen Denkapparat uneitel zur Verfügung stellte, und eine pastorale Vaterfigur.
Zurück zum Marinesteig: Peter und Lars besuchen beide die Johannes-Tews-Grundschule, Peter wechselt nach der vierten Klasse auf die Nordschule, weil der dort angebotene Lateinunterricht seine historischen Interessen bedient. Lars hingegen geht erst nach der sechsten Klasse auf das Rathenau-Gymnasium. Beide Brüder sind es gewohnt, mit verschiedenen Bezugspersonen auszukommen. Ihr Leben, ihre Familiensituation impft ihnen ein, dass es von Vorteil sein kann, sich alleine beschäftigen zu können oder sich rasch Halt bei und an jemandem zu verschaffen, den man vielleicht noch nicht ganz so gut kennt. Zwar ist immer jemand da, Martha Litzl, ein norwegisches Au-Pair-Mädchen, ein Hausmädchen, Brandts Fahrer Georg Holly oder zur Not auch ein Wachtpolizist, aber auch dieses »Personal« ist nicht immer verfügbar. In der kinderreichen Siedlung sind die Brandts bestens integriert, die zwei laufen und spielen überall mit, sie sind fester Bestandteil einer Bande, eines kleinen Theaterensembles auch, man spielt Brennball, sie schleichen sich ins »Lumina«, ohne Kinokarten zu kaufen, sie bewerfen Spaziergänger am Schlachtensee aus dem Gebüsch heraus mit Sand, sie treiben den altersüblichen Unfug. Sie besitzen aber auch ein Talent, wenn man das so sagen kann, zum im Abseits Stehen, wohin sie nicht von anderen befördert werden, sondern sich selbst begeben, um manches allein mit sich und in sich auszutragen. Beide Söhne sind stark fehlsichtig, beide schielen leicht, so dass sie früh zu Brillenträgern werden, was ihnen auf Kinderfotos das Aussehen von Miniatur-Erwachsenen verleiht. Insbesondere Lars muss mehrere kleine Augenoperationen über sich ergehen lassen, läuft monatelang mit einem abgeklebten Auge als »Einäugiger« herum, damit das schwächere Auge zum ausgleichenden Training gezwungen wird. Rut hat in dieser Beziehung mit ihren Jungs mitgefühlt, gelitten, weil sie hoffte, dass die beiden von starkem Glas und Gestell verschont blieben. Für ihren dritten Sohn Matthias wünschte sie sich so sehr, dass er keine Brille tragen, dass sie ihn erst gar nicht zum Augenarzt schicken müsse, obwohl alle Anzeichen dafür sprachen, dass er in gleicher Weise sehbeeinträchtigt sein würde wie seine Brüder. Vielleicht ist auch eine winzige Portion mütterlicher Eitelkeit dabei, die sie abhält, ärztlichen Rat einzuholen, vielleicht auch »Fürsorge«, die dem Sohn das »Brillenschicksal« ersparen will. Vater und Mutter Brandt fragen sich oft, woher die Fehlsichtigkeit kommt, sie muss eine Generation übersprungen haben und wird eher von der väterlichen Seite stammen, denn auch Ninja hat als Kind mit Augenproblemen Bekanntschaft gemacht und einen leichten Silberblick geerbt.
Die Brillen betonen einen ernsten, frühreifen Eindruck. Auf vielen Bildern, die die bereits jugendlichen Brandts zeigen, blicken sie distanziert auf das Kameraauge, als ob sie durchschaut hätten, dass hier ein Spiel getrieben wird, in dem sie nur ein Ornament der Macht sind. Da kann man – ohne übertriebene Interpretationsanstrengungen zu unternehmen – so etwas wie Widerständigkeit spüren. Auch eine Portion Langeweile ist dabei, so als wollten sie sagen, wir hätten eigentlich Besseres zu tun, aber wenn’s Vati hilft. Mitunter sehen sie sich zum Verwechseln ähnlich, nicht nur weil sie sich physiognomisch ähneln, sondern auch weil ihr Gesichtsbrillenausdruck übereinstimmend an intellektuelle Hochflieger denken lässt, selbstbewusst-coole Gymnasiasten oder Studenten unter Denkstarkstrom. Ist es dieser eigenwillige Blick und Anblick, der Lars noch als Knirps selbst zur Kamera greifen lässt? Er wünscht sich einen Fotoapparat und ist bald der Dokumentarist der Familie, der, wo er geht und steht, sein forschendes Kamerakinderauge (Agfa-Box 600) auf die Mitmenschen und die Welt loslässt.
Kindern wird mitunter ein offenes Auge und ein besonderes Gespür für die Welt der Erwachsenen nachgesagt, weil sie den Augenblick beim Wort nehmen und die Erwachsenen nicht nach ihrer Vergangenheit oder Zukunft beurteilen. Erwachsene hingegen sehen im Kind eher das, was aus ihm werden könnte oder werden sollte. Rut Brandt wollte, dass ihre Söhne lernen, sie wollte, dass sie schaffen, was ihr verwehrt geblieben war. Peter Brandt
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