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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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erinnert sich an ihren an die Kinder weitergereichten Bildungshunger: »Meine Mutter konnte sehr energisch werden, wenn ich mal keine Lust hatte, die Hausaufgaben zu machen. Sie sagte dann: ›Kein Problem, ich kann dich morgen als Laufbursche bei ›Hefter‹ anmelden!‹ – Das waren Berliner Lebensmittelläden, die warben mit dem Spruch ›Erst einmal, bald öfter, dann immer zu Hefter‹. In Schuldingen verstand sie keinen Spaß, weil sie selbst ja nicht diese Bildungschancen hatte. In ihrer Familie hatte keiner das Abitur gemacht und studiert. Ich konnte also für die Schule keine Unterstützung von den Eltern erwarten. Mein Vater war fast nie da, und woher hätte meine Mutter Latein oder Mathe können sollen?« In den meisten Fächern trägt Peter Brandt gute Noten nach Hause, doch Mathematik ist für ihn seit dem Übergang ins Gymnasium ein Leidens- und Zitterfach. Zum Glück findet sich in der Nachbarschaft ein Nachhilfelehrer. Er heißt Horst Lison, studiert Psychologie und Medizin an der Freien Universität und hilft Peters Schulfreund Robert Schulz bei den Hausaufgaben. Drei Mark und fünfzig bekommt er pro Stunde, und diesen Lohn erhält er bei den Brandts auch. Obendrein wird er von Rut Brandt oder Martha Litzl bekocht, und »beide«, erinnert er sich, »waren hervorragende Köchinnen«. Der junge, gutaussehende Mann hilft Peter und Lars und ist bald ein willkommener Gast in der Familie. Dieser freundschaftliche Faden wird ein Leben lang halten. Für Peter Brandt wird er eine Art großer Bruder, der ihm auch in späteren Lebenskrisen Halt gibt.
    Als ich Horst Lison zum Interview treffe, kommt mir auf der Straße ein »junger« Mann von achtzig Jahren entgegen, geschulterter Rucksack, beschwingter Gang, wacher Blick. Er ist Psychologe geworden, spezialisiert auf die Behandlung und Begleitung von Kindern und beruflich immer noch unterwegs. Gerade kommt er von einer Tagung. Auch Willy Brandt schätzt bald den jungen Mann, der 1958 in die SPD eintritt und mit dem man ungezwungen politisieren kann. Ich frage ihn, ob er sich an bestimmte Gesprächssituationen oder -inhalte mit Brandt erinnert. Ja, er erinnere sich insbesondere an ein Gespräch über Israel, als Brandt dort ein Flüchtlingslager besucht habe. »Das muss 1973 gewesen sein?« Horst Lison nickt. »Kann hinkommen. Vielleicht ist mir dieser Satz im Gedächtnis geblieben, weil ich seine Aussage als weitblickend empfand. Er hatte immer ein Gespür für das, was kommt. Er meinte, was dort in Israel und im Nahen Osten passiere, sei ein ›Sprengsatz für unser aller Zukunft‹. Auch eine Begegnung im Jahr 1965 prägt sich nachhaltig ein. Brandt ist gerade zum zweiten Mal als Kanzlerkandidat gescheitert: »Wir saßen zusammen und schwiegen. Wir tranken Kognak, ja, er trank viel, aber ein Alkoholiker war er nach meiner Auffassung nicht. Er lief unruhig hin und her, die meiste Zeit schwieg er, nur ab und zu brach es aus ihm heraus, und dann ließ er sich negativ über Herbert Wehner aus. Er war sehr, sehr niedergeschlagen.« Und Peter und Lars? Waren das verschiedene Typen? »Peter«, sagt Lison, »spielte auch wie alle anderen Kinder, aber er spielte doch irgendwie ernst. Lars war eher der Sonnyboy, fröhlicher, während Peter aus der Geschichte kam und in die Geschichte ging. In anderen Fächern hatte er Konzentrationsschwierigkeiten, nicht in Geschichte. Vielleicht wollte er seinen Vater auf diesem Sektor überbieten. Ich denke, das Vorbild seines Vaters, die Erwartung, so zu werden wie er, muss eine große Belastung für ihn gewesen sein, aber er hat das nie ausgesprochen.«
    Was Horst Lison in unserem Gespräch besonders betont, was er hervorgehoben wissen möchte, ja was ihm am Herzen liegt, ist die Korrektur eines eingeschliffenen Bildes, eines Eindrucks, der mitunter von Willy Brandt überliefert wird. Er sei nur selbstbezogen gewesen, emotionslos oder unfähig, auf andere Menschen einzugehen. Horst Lison hat ihn anders erlebt.
    Lison gehört zur ersten Generation der studentischen Fluchthelfer, die aus Idealismus ihre Kommilitonen, Freunde oder Bekannte in den Westen holen wollten. Nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 stand nahezu ein Viertel der Studenten der Freien Universität (FU), die im Osten lebten, vor der Frage, wie es weitergeht. Im Westen bleiben? Zurückkehren? Oder, falls man sich gerade im Osten befunden hatte, einen Fluchtversuch wagen? Horst Lison und zahlreiche Mitstudenten nahmen den Leitgedanken ihrer Universität ernst,

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