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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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denn die FU war 1948 von Studenten und Professoren aus Protest gegen die zunehmende Unfreiheit an der Ost-Berliner Humboldt-Universität gegründet worden. Kommerzielle Interessen hatten sie keine. In der ersten Phase der Fluchthilfe wurden vor allem Tunnel gegraben. Dann, nachdem diese unterirdischen Passagen immer stärker in den Fokus der Staatssicherheit gerieten, konzentrierte man sich auf Manöver mit falschen oder gefälschten Pässen. Insgesamt werden 70 FU-Studenten bei Fluchthilfeaktionen von der Staatssicherheit festgenommen. Horst Lison gehört zu ihnen. Man verurteilt ihn zu sechs Jahren Haft. Bei den Verhören zeigen die Stasi-Vernehmer besonderes Interesse für alles, was mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin zusammenhängt. Horst Lison: »Ich wurde sehr genau und hartnäckig nach Willy Brandt befragt, sie wollten alles über ihn wissen. Wer bei den Brandts ein- und ausging, wie die Wohnung aussah, wo die Zimmer lagen, was er für Gewohnheiten hatte. Ich musste sogar eine Skizze der Wohnung anfertigen. Nachdem ich das gemacht hatte, fühlte ich mich regelrecht beschmutzt.« Eine Freundin von Horst Lison setzt sich unmittelbar nach seiner Verhaftung mit Rut Brandt in Verbindung und berichtet ihr, was vorgefallen ist, und die schenkt dem verweinten Mädchen erst einmal etwas Stärkendes ein: »Jetzt genehmigen wir uns erst einmal einen guten Kognak, das ist wie Medizin. Willy muss helfen.« Aus seinen Akten weiß Horst Lison, dass sich Willy Brandt frühzeitig und wiederholt für seine Freilassung eingesetzt hat, er werde, so stand es da, alles Menschenmögliche für ihn tun. Tatsächlich kommt Lison am 26. Juni 1963 frei.
    Dieser heitere Sommertag ist keiner wie jeder andere, für Lison nicht, aber auch nicht für Berlin, denn es ist der Tag, an dem John F. Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus spricht und den jubelnden Berlinern zuruft: »Ich bin ein Berliner!« Als er am Abend zurückfliegt, wird der bewegte Präsident zu seinen Beratern sagen: »Einen Tag wie diesen werden wir nicht mehr erleben!« Ausgerechnet in dieser historischen Situation, die für Brandt mit Terminen und Ereignissen überladen ist, empfängt er Horst Lison im Schöneberger Rathaus. Kennedy ist noch nicht eingetroffen. Der Bürgermeister nimmt sich Zeit. Diese Begegnung steht Lison lebhaft vor Augen: »Er hat mich in den Arm genommen, er hat gelacht und sich richtig gefreut. Dann musste ich ihm alles über den Prozess und die Haft erzählen, und er hat sehr aufmerksam zugehört. Da war er alles andere als unbeteiligt oder emotionslos, und – das darf man nicht vergessen – das war der Tag, an dem er den amerikanischen Präsidenten empfing.« Was ihn gewundert habe, erzählt Horst Lison, war, dass Willy Brandt überhaupt kein Misstrauen ihm gegenüber gezeigt habe, obwohl er doch zwei Jahre in der DDR in Haft gesessen hatte und es bekannt war, dass Häftlinge mitunter »umgedreht« und als Späher eingesetzt wurden. Brandt sei vielleicht etwas »vertrauensselig« gewesen, denn Lison ging wieder im Hause Brandts ein und aus und bekam sogar den Auftrag, Willy Brandts private Bibliothek zu systematisieren.
    Als wir Abschied voneinander nehmen, betont Lison, dass er sich selbst nicht als »Opfer« betrachte und auch von anderen nicht in diese Kategorie gesteckt werden möchte, nein, er habe vielmehr für die Freiheit gekämpft und Widerstand geleistet.

    Auf der Suche nach der längst verschwundenen Marinesteig-Welt der Brandts stoße ich auf kreuzende, begleitende Biographien und Schicksale, die als Kontrastmittel zum Leben der Familie Brandt betrachtet werden können und die, um nur einen Aspekt zu nennen, zum Beispiel anschaulich machen, woher das tiefsitzende Misstrauen gegen Willy Brandt kam, warum er immer wieder diffamiert wurde und warum diese Diffamierungen lange Zeit auf fruchtbaren Boden fielen.
    Heidi Leonhardt-Barillé wächst im Marinesteig auf. Sie freundet sich mit Ninja Frahm an, die regelmäßig in den Sommerferien oder auch zu anderen Gelegenheiten nach Berlin kommt, um ihren Vater zu besuchen. Da der oft unterwegs ist und ihre viel jüngeren Brüder als »ernsthafte« Spielgefährten ausfallen, schließt Ninja sich schnell an einige Mädchen der Siedlung an und lernt so mit kindlich-frischer Auffassungsgabe Deutsch. Heidi Leonhardt wird ihre beste Freundin, und diese Freundschaft hat bis heute innigen Bestand, obwohl Ninja in Oslo und Heidi in der Nähe von Paris lebt. Rut Brandt freundete

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