Die Familie Willy Brandt (German Edition)
arbeitete, erklärt mit resoluter Festigkeit: »Ich kann mir die Brandts ohne Frau Litzl gar nicht vorstellen! Ein Mutterersatz? Sie war noch mehr als eine Mutter für die Jungs!«
Martha Litzl erkrankt an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Am 9. Januar 1975 schreibt sie ein letztes Mal an Rut Brandt, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Nachdem sie den Brief beendet hat, packt sie ihre Tasche und fährt ins Krankenhaus. Sie wird nicht mehr zurückkommen. Sie stirbt am 7. Februar 1975 und wird am 17. Februar auf dem Friedhof Berlin-Wilmersdorf an der Berliner Straße 81 beerdigt. Rut, Peter und Lars Brandt nehmen an der Trauerfeier teil.
Die Wohnung von Martha Litzl wird von ihrer Nichte aufgelöst. Die Fotos der Brandt-Kinder sind nicht zu übersehen.
Nein, teilt mir die Friedhofsverwaltung mit, das Grab der Frau Litzl, Martha existiere nicht mehr.
Ihre Grabzeit war abgelaufen.
Eine Version der Vorkommnisse
Der Brandt hat einen Sonderzug. Das muss man sich mal vorstellen. Einen ganzen Zug für einen einzigen Emigranten. Das hat es seit Lenin nicht mehr gegeben. Und Lenin war immerhin ein gebildeter Mann. Der hatte wenigstens eine anständige Schulbildung. Wenn der Brandt ins Ausland fährt, muss man sich ja direkt schämen, als Deutscher.
Alfred Tetzlaff in »Ein Herz und eine Seele«
Eine Version der Vorkommnisse: Willy Brandt, der als Beschwichtigungsredner und Gefühlsdimmer nach dem Ungarn-Aufstand von den Medien zum Helden der Stadt ausgerufen und von den Berlinern als solcher empfunden wurde, wird am 3. Oktober 1957 zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Die zahlreichen Berlin-Krisen (Chruschtschow-Ultimatum, Bau der Mauer) erneuern und befeuern diesen Ruhm. »Willy Brandt ruft die Welt« texten seine Propagandisten, und die Welt hört tatsächlich zu, die Welt blickt auf Berlin und Brandt. Der kalte Krieger Brandt wandelt sich in der geteilten Stadt zum Entspannungspolitiker, der berühmteste Bürgermeister der Welt wird zum Nebenaußenminister der Bundesrepublik. Die Politik der »kleinen Schritte« nimmt Gestalt an. Der Aufstieg des Mannes scheint unaufhaltbar. Ja, er verliert zwar trotz Stimmzuwächsen die Bundestagswahlen 1961 und 1965 als Kanzlerkandidat der SPD, ist fast weg vom Fenster, aber er gewinnt an innerer und äußerer Statur. Selbst mit Niederlagen weiß Brandt Bündnisse einzugehen. Er streift das Image des deutschen Kennedy ab, er wird den Ruf des Zauderers los und packt die Machtchance beim Schopf. So kommt es, wie es kommen muss: Der Mann tritt am 28. Oktober 1969 das Amt des Bundeskanzlers an. Das ist eine Version der Vorkommnisse.
Die Weltgeschichte rafft die Ereignisse. Was einer zu geben hat, ist schnell genommen, sie registriert nur die wichtigsten Namen, in ihrem Register fehlen die Namen der Nachbarn, der Freunde, der Ehefrauen, der Kinder, der Neider und Feinde. Was haben die Namenlosen dem Namenhaften zu geben? Was wäre er ohne sie? Gibt man ihm diese zurück, bittet man ihn, aus dem großen Gemälde zu steigen. Was machen die Söhne, wenn ihr Vater die Welt ruft und Berlin rettet? Wie fühlt sich die Ehefrau, die plötzlich ins Rampenlicht gestoßen wird?
Peter ist früh ein ernstes Kind. Giert nach Büchern, sobald er lesen kann, schmökert sich durch alle Karl-May-Abenteuer. Von Anfang an entwickelt er ein besonderes Interesse für Geschichte. Wenn der Vater verreist, wird er von Peter stets beauftragt, für ihn das Gelesene in der Wirklichkeit zu überprüfen. Von einer Amerikareise schreibt Willy an Rut am 5. März 1954: »Du kannst Peter erzählen, dass ich noch keinen Kontakt zu irgendwelchen Büffeln hatte. Neger habe ich hingegen zu Tausenden gesehen und einige wenige Indianer.« Diese Art von Geschichtsschnipseln für den Ältesten findet man häufig in den Briefen des Vaters. Peter, so berichten es Klassenkameraden aus der Grundschule, war in diesem Fach dem Lehrplan immer weit voraus. »Ich bin Peter Brandt, und mein Vater ist der Präsident von Berlin!«, so stellte sich Peter mitunter in der Schule vor, und er konnte mit Merksprüchen wie »333 – bei Issos Keilerei« oder »753 – Rom kroch aus dem Ei« nur so um sich werfen. Das Hausmädchen Ursula Schurig, die damals noch Zimmermann hieß, aber ihren Mädchennamen ablegte, nachdem sie 1962 einen der Wachtpolizisten aus dem Marinesteig heiratete, meint über ihn: »Peter hat auch schon als Kind immer irgendwie gearbeitet. Ich habe den Eindruck, er ist wie sein Vater geworden, den Schreibtisch immer
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