Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
Vom Netzwerk:
zieht er durch Städte und Dörfer und schwenkt seinen grauen Homburg so entschlossen und oft, dass Klaus Schütz bald Ersatzexemplare beschaffen muss. Das Pensum, das Brandt absolviert, ist beeindruckend, er legt in den ersten 21 Tagen der Kampagne 22056 Kilometer zurück, besucht jeden Tag fünf bis sechs Städte und bis zu 15 Landgemeinden und hält bis zu 25 Reden auf Marktplätzen oder in angemieteten Zirkuszelten. Peter Merseburger hat diesen Kraftakt in seiner Brandt-Biographie ausführlich geschildert und betont, der Regierende aus Berlin habe sich seiner Pflichten »beinahe roboterhaft entledigt«. War der Kandidat in Gedanken woanders? Hatte er die Hoffnung bereits vor dem Urnengang fahrenlassen? Die auf den Menschen und Privatmann zielenden Angriffe zeigten Wirkung, denn sie trafen nicht nur Brandt, sie schossen nicht nur auf den Politiker, sondern sie zielten auch auf den Ehemann und Vater und berührten hier seine sensibelsten Punkte. Böse Zungen behaupteten, er sei ein blasser Kennedy-Verschnitt, ein Abklatsch des Originals, ja selbst Rut Brandts Schwangerschaft sei doch nichts anderes als ein Wahlkampfmittel, denn schließlich habe Jacqueline Kennedy es erfolgreich vorgemacht: Der Baby-Bonus angelt Stimmen.
    Noch hinterhältiger und weitaus schmerzlicher war die Veröffentlichung des Buches »… da war auch ein Mädchen«. Autorin war angeblich eine mysteriöse Claire Mortensen, doch dahinter steckte der zwielichtige Hans Frederick, der nicht nur enge Beziehungen zur CSU, sondern auch zu Ostberliner Diensten unterhielt. Das Buch ist eine charakterliche Denunziation, denn es mustert Brandts Beziehungsleben tendenziös und versucht, den Kandidaten als egoistisch-kalten Frauenmann zu stilisieren, der Frauen benutzt und auspresst, solange sie ihm dienen, und sie fallenlässt, wenn er sich von ihnen keinen Nutzen mehr verspricht. Brandt wird hier als illoyaler Wüstling, als Trunkenbold und nikotinabhängiges Psychowrack ins denkbar schlechteste Licht gerückt. Was dem schmierigen Pamphlet trotz seines durchsichtigen Stils Gewicht verleiht, sind die faksimilierten Briefe, die Brandt 1951/1952 an Susanne Sievers geschrieben und die diese aus Rache weitergegeben hatte. Außerdem hat sie dem Autor haarklein geschildert, wie Brandt sich verhielt, was ihr auffiel, wie er sich benahm, was man gemeinsam erhoffte, wie man zusammen träumte und in Bonn lebte. Selbst wenn man das Buch mit Skepsis zur Hand nimmt, selbst wenn man daran denkt, dass hier jemand moralisch zerstört werden soll, gelingt es dem Text dennoch, ein gewisses Maß an Authentizität vorzugaukeln, denn was wäre intimer als der Blick durchs Schlüsselloch? Man muss sich nur einmal vorstellen, wie verheerend die Veröffentlichung dieses Buches auf Rut und Willy Brandt gewirkt haben muss. Rut sah sich vor aller Öffentlichkeit betrogen und zur Zielscheibe des Spottes gemacht, und ihr Mann, der in seinem Innersten ausgeforscht und bloßgestellt wurde, musste annehmen, dass damit nicht nur seine Karriere, sondern auch seine Ehe zerstört worden sei. Der Abgrund, der sich hier reißend vor den Eheleuten Brandt auftat, muss finster gewesen sein. Nach der Schilderung seines Biographen Peter Koch brach Brandt im Schöneberger Rathaus weinend zusammen und wollte alles hinschmeißen. Erst Hans Albertz gelang es, den am Boden Zerstörten wieder aufzurichten und ihm Kampfgeist einzuimpfen. Brandt wehrt sich juristisch gegen die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte und obsiegt, das Pamphlet muss zurückgezogen werden. Der öffentliche Schaden war weitgehend abgewendet, aber privat ließ sich dieser Schlag kaum mit juristischen Mitteln erledigen. Willy Brandt hatte seine Mannschaft, die ihn wieder aufrichtete, und – auch sie war ihm Gefährtin: Die Geschichte verlangte dringend nach ihm. Der Bau der Mauer am 13. August 1961 machte ihn als zeithistorische Figur scheinbar unentbehrlich, stellte ihn vor solch gewaltige Herausforderungen, dass daraus auch Verdrängungsenergien gewonnen werden konnten. Wer eine halbierte Stadt aufrichten und wundversorgen muss, wer im Fokus weltweiten Interesses steht, findet Argumente genug, das Privatleben an den äußersten Rand seiner Existenz zu drängen und den häuslichen Dialog mit der eigenen Frau hintanzustellen.
    Rut Brandt hört ihn schweigen. Wenn ihr Mann in diesen Wochen und Monaten zu Hause ist, sagt er nichts. Hüllt sich ein in einen Mantel aus Erschöpfung, Rauch, Unruhe, Scham und unabweisbare

Weitere Kostenlose Bücher