Die Familie Willy Brandt (German Edition)
seinem Weg gewesen sei. Sie habe Nachdenklichkeit eingefordert, wo er bis dahin nur nachgeplappert hatte.
Das Jahr 1961 ist ein Krisen- und Angstjahr in Berlin, und es ist ein mehr als schwieriges Jahr für die Familie Brandt. Die globale Angst vor einem Dritten Weltkrieg war vielleicht in Berlin am spürbarsten, hier, wo die Supermächte Stirn an Stirn standen und die Muskeln spielen ließen. Die zweite Berlin-Krise nach 1948 zieht sich über mehrere Jahre hin und findet ihren Höhepunkt in Mauerbau und Kuba-Krise. Einige zehntausend Berliner ziehen in die Bundesrepublik, sie werden von denen, die die Stellung halten, als »Feiglinge« betrachtet, Häuser stehen leer und sind billig zu haben. Umzugsunternehmen sind auf Monate ausgebucht, und der Berliner Senat zahlt den Berlinern fortan eine Lohnzulage namens »Zitterprämie«. Der Regierende Bürgermeister Brandt ist vor allem als Stirnbieter, kalter Krieger und Stimmungsaufheller im Einsatz. Die nagende Verunsicherung, die imaginierten Zerstörungs- und Verwüstungsbilder eines Atomschlags und ein permanentes Bedrohungsempfinden teilen sich selbstverständlich auch den Kindern mit. Das Gefühl der Bedrohung verdichtet sich für Peter Brandt in folgender Szene: »Meine Mutter hat mir dann, ich vermute um mich zu beruhigen, mal erklärt, warum wir es in Berlin im Falle eines Atomkrieges gut getroffen hätten. Sie meinte auf Berlin würde schon keiner eine Bombe werfen, denn hier würden ja die vier Mächte sitzen und sich wohl kaum selbst auslöschen. Kurioser Gedanke! Ich erinnere mich auch daran, wie mich mein Vater einmal zur Seite nahm, es war wenige Monate vor der Kuba-Krise, und meinte, es könne sein, dass er einmal längere Zeit nicht nach Hause komme, und ich als der älteste Sohn müsse dann der Mann im Hause sein und meiner Mutter helfen. Ich war groß genug, um zu wissen, was ein Atomkrieg bedeutet. Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise war ich richtig bedrückt. Ich glaube, was die politische Zuspitzung anging, war ich in meinem Leben nie wieder so furchtsam und niedergeschlagen wie damals. Ich habe Anfang oder Mitte der sechziger Jahre einen Film gesehen, er hieß »Das letzte Ufer«, der mich damals sehr beschäftigte und an dessen furchtbare Geschichte ich mich bis heute erinnere. Es ging um die Welt nach einem Atomschlag. Nur in Australien lebten noch Menschen. Für die Überlebenden verdichtete sich aber auch immer mehr die Gewissheit, dass sie keine Überlebenschancen besaßen. Einer beging Selbstmord, indem er sich mit Autoabgasen vergiftete, und die Regierung ließ schließlich Giftkapseln an die Bevölkerung verteilen.«
Zerstörerisch in einem ganz anderen Sinne war Willy Brandts Griff nach der Macht. »Voran mit Brandt« forderten die Wahlplakate der SPD im Bundestagswahlkampf 1961. Die schwarz-weißen Porträts zeigen ein ernstes Jungengesicht. Traut man diesem stirnfaltenfreien Burschen das Kanzleramt zu? Entschlossenheit und Festigkeit will der Kandidat zeigen, gleichwohl wirkt er weich, zugänglich, erschütterbar. Das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik lässt sich der Herausforderer des amtierenden Kanzlers als »Kanzlerkandidat« titulieren, ein semantischer Kunstgriff, von Klaus Schütz aus Amerika importiert, der als symbolischer Vorgriff auf das Amt verstanden werden darf, als frohe Botschaft an den Wähler, dem suggeriert wird, der Kandidat habe die Hälfte der Strecke auf dem Weg an die Spitze schon erfolgreich absolviert und sei auf keinen Fall als »Habenichts« zu betrachten.
Konrad Adenauer, der Urälteste, der steinfeste Greis, scheut nicht davor zurück, seinen juvenilen Gegenspieler zu diffamieren. Bei einer Wahlkampfkundgebung spielt er auf die uneheliche Geburt von Willy Brandt an und lässt sich zu dem Satz hinreißen: »Wenn irgendjemand von seinen politischen Gegnern mit größter Rücksicht behandelt worden ist, so ist es Herr Brandt alias Frahm.« Rut und Willy Brandt haben diese Schläge in den intim-familiären Bereichen sehr verletzt, das haben beide in späteren Jahren oft betont. Da wurde Gift ausgestreut, traut ihm nicht, dem Namenfälscher, traut ihm nicht, dem unehelichen Balg, traut ihm nicht, dem Heimatwechsler, der ist keiner von uns. Das waren sicher Angriffe auf das Nervenkostüm des Kandidaten, aber auch Einkerbungen ins Unterfutter der Identität. Der ohnehin kräftezehrende Wahlkampf musste so zur Tortur werden. Dabei sollte Brandt den »smiling Willy« geben, im cremefarbenen Mercedes
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