Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Sommerszenen: Die Kinder kaufen eine Angel, Forellenfischen am sprudelnden Bach. Doch dann schreitet eine örtliche Autorität ein und konfisziert die Rute, da Willy Brandt keine gültige Lizenz besitzt. Dann lieber auf den Schießstand, da ballern die Erwachsenen nach Herzenslust, auch die Frauen, auf ein fernes Reh auf Pappe. Die Flinten rauchen. Und eine Schnitzeljagd wird veranstaltet, die Familien schwärmen aus. Irgendwann ist Willy Brandt verschwunden, abgetaucht, wie vom Erdboden verschluckt. Man findet ihn in einem gewaltigen Blaubeerfeld, da liegt er, lacht, den Mund voller Beeren. Doch der Urlauber Brandt bleibt selten so ungestört, meistens zieht und zerrt irgendein Referent an ihm, Nachrichten laufen ein, Brandt ist nie außer Dienst.
»Wissen Sie«, sagen die Bohmbach-Brüder mehr oder weniger mit einem Mund, mit einer Stimme, »Brandt war kein Alkoholiker, und er war auch kein Schürzenjäger, wenn Sie jetzt ein Buch schreiben, dann sollten Sie das ausräumen. Der hatte ja nie Zeit. Wenn wir spät abends nach Hause kamen, dann brannte in seinem Arbeitszimmer immer noch das Licht. Bei niemand anderem im Marinesteig brannte so lange das Licht. Ja, er wirkte oft abwesend, so als ob er eine Mission hat. Zigaretten gefressen hat er wie Brot. Und das sollten Sie auch betonen, er war ein sehr menschlicher Mensch, der Gefühle hatte.«
Warum starb Marianne Bohmbach so früh und qualvoll mit 46 Jahren? Warum war sie unglücklich? Da sind die Brüder unterschiedlicher Auffassung. Zwar können sie sich einigen, dass der stille Weg ihrer Mutter etwas mit ihrem Vater zu tun hat, aber in welchem Ausmaß? Christian meint, seine Mutter habe sehr darunter gelitten, dass sie nicht mehr in ihrem erlernten Beruf als Zahnärztin arbeiten durfte, weil Eberhard es verbot. Michael jedoch findet, sie sei heilfroh gewesen, dass sie nicht mehr habe arbeiten müssen. Ihre Mutter sei eine sehr in sich gekehrte Frau gewesen. Sie habe Rut Brandt bewundert, weil sie so selbstbewusst gewesen sei und auch an der Seite ihres »bedeutenden« Mannes nicht klein oder unbedeutend gewirkt habe. Rut Brandt besaß eine starke Selbstdisziplin, die sie von emotionalen Gefährdungen fernhielt. Marianne Bohmbach hingegen ertrank nach innen. Sie trank heimlich. Wenn ihr Mann im Büro und die Kinder in der Schule waren, versuchte sie, die Angst und die Leere wegzuwischen. Sie trank mit bitterer Konsequenz und mit Geschick, denn lange Zeit merkte niemand etwas, und als die Krankheit erkannt wurde, war es zu spät. Der Halt, den Marianne Bohmbach auch an Rut Brandt gefunden hatte, schwindet, als die Brandts 1964 den Marinesteig verlassen und in eine geräumigere Villa in der Taubertstraße umziehen. Schließlich ziehen die Brandts im Frühjahr 1967 nach Bonn. »Die Depression unserer Mutter verschärfte sich, nachdem die Brandts fortgezogen waren. Als es dann mit meiner Mutter gesundheitlich rapide bergab ging, hat sich unser Vater an Rut gewandt, und die hat geholfen, wo sie nur konnte. Unsere Mutter fiel ins Delirium tremens und wurde ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus eingeliefert, doch es war zu spät, ihr Körper war zu sehr vergiftet.«
»Soll ich diese Geschichte in der Biographie erzählen?«
»Ja!«, sagen die Brüder. »Ich will das ganz offen sagen und bekenne mich auch dazu«, sagt der jüngere Christian. »Ich bin seit vielen Jahren trockener Alkoholiker, und Alkoholismus ist eine Krankheit, die vom Schweigen lebt. Unsere Mutter hätte nicht so früh sterben müssen, wenn sie sich früher zu ihrer Sucht hätte bekennen können. Man hilft niemandem, wenn man seine Abhängigkeit verschweigt. Wenn man darüber sprechen kann, ist das der erste Schritt.«
Michael Bohmbach ist sich in dieser Hinsicht mit seinem Bruder wieder ganz einig. Er berichtet, wie bewegt Rut und Willy Brandt auf der Beerdigung ihrer Mutter gewesen seien. Willy Brandt, sagt Michael Bohmbach, habe »total geheult«, als der Sarg von Marianne Bohmbach in die Erde gesenkt worden sei. Auch das, meint er, spricht doch gegen das Bild von einem gefühllosen Mann. Als ich Peter und Lars von dieser Friedhofsszene berichte, reagieren beide völlig unabhängig voneinander verblüffend ähnlich mit einem nahezu identischen Satz: »Dass mein Vater dort geweint hat, halte ich für unwahrscheinlich.« Ich setze ein Fragezeichen hinter ihr Fragezeichen und auch Fragezeichen hinter mein Fragezeichen.
Sicher sind zwei Dinge: »Wissen Sie, dass ich den Schreibtisch von Willy Brandt
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