Die Familie Willy Brandt (German Edition)
ein zweiter Anlauf, links und rechts wacht Polizei, Beat-Ekstase unter misstrauischer Aufsicht. Nach zwanzig Minuten ist endgültig Schluss, eine Zugabe bleibt aus, Empörungsflut. Um die Gemüter abzukühlen, stellt der Veranstalter das Licht ab, Panik bricht aus, Randale. Begeisterungsenergien verwandeln sich in Tobsucht und Zerstörungslust, die Sitzreihen brechen splitternd wie Streichhölzer unter den Fußtritten, oben spritzt die Polizei mit Wasserwerfern, am Ausgang steht berittene Polizei, Angst, unter die Hufe zu kommen, macht sich breit, nur raus, nur weg, vorbei an den bedrohlichen Tierkörpern.
An dieses mulmige, dieses unbehagliche Gefühl erinnert sich auch Peter Brandt. Er hat sich nicht nach vorne gedrängt, er bleibt zurück, weiter oben auf den Rängen, und hat das Geschehen aus einiger Distanz verfolgt. Als Bild steht ihm noch vor Augen, wie jemand die Bühne erstürmt und Mick Jagger etwas entreißt, eine Szene, die beunruhigend gewirkt habe: Hier, dachte Peter Brandt damals, läuft was aus dem Ruder. Der konservative Publizist Matthias Walden ist an jenem Abend ebenfalls in der Waldbühne, und seine Reportage zeigt deutlich, wie ratlos, verständnislos, aber auch wie aggressiv und feindselig die Elterngeneration auf die »Beat-Jünger« herabblickte. Obwohl Walden sich nicht mit jenen »älteren Beobachtern« in der Waldbühne gemein machen will, die angesichts der tobenden Jugendlichen »Arbeitsdienst«, »militärische Zucht« oder »kasernieren« fordern – nein, da ist Walden ganz liberaler, weltläufiger Herr –, wird aus seiner Beschreibung des Geschehens doch deutlich, welch vergiftete Sprachlosigkeit zwischen den Generationen herrscht, obgleich der Reporter seine ganze Sprachmacht bemüht, um den Augenblick und das Phänomen zu bannen, einzufangen. Er sieht die Szene, die auch Peter Brandt im Gedächtnis geblieben ist, so: »Mick Jagger zuckt von den Zehen bis zu den Spitzen seines weibischen Zopfes und wiederholt mit obszöner Stimmvibration sein glaubhaftes Geständnis: ›I can’t get no satisfaction!‹ Er reißt sich die Jacke vom Leib, schwingt sie hoch über dem Kopf, wirft sie auf die Schulter und bewegt Waden, Schenkel, Gesäß und Hüften in einer Art männischem Striptease, das der Entblößung nicht mehr bedarf, weil die Enge seiner Hosen jeden exhibitionistischen Anspruch erfüllt. Da fährt ein Schatten aus dem dunklen Bühnenhintergrund, unterläuft mit einem geduckten Satz den Polizeicordon, springt den schlotternden Sänger von hinten an, hockt für den Bruchteil einer Sekunde auf den gehetzten Schultern des Londoner Götzen, wird abgeworfen wie ein Cowboy im Rodeo vom Nacken des Jungstieres, entfernt im Sturz noch dem Täter und Opfer der Show das Jackett und landet mit seiner Beute im Hexenkessel der Publikumsmanege, wo reißende Fans den schweißnassen Textil-Fetisch ihres Mick Jagger zerschleißen.« Der Reporter will sich dem jugendlichen Publikum zunächst vorurteilsfrei nähern, das Beat-Phänomen analysieren, doch im Lauf seiner Reportage verfällt er einer unübersehbaren Abscheu-Lust. Obwohl er kritisch anmerkt, dass das massive Polizeiaufgebot (berittene Polizei, Hundestaffel, Überfallwagen, Wasserwerfer) eher zu einer »öffentlichen Kriminalveranstaltung« passe, das »nahende Publikum« jedoch »keineswegs kriminell« sei, verfällt er selbst in kriminalisierende und stigmatisierende Schreibweisen und Wahrnehmungen.
Die politische Radikalisierung der studentischen Jugend, die ja auch eine sprachliche Radikalisierung und Hochrüstung ist, suchte eine Antwort auf die gepanzerte, von militärischen Bildern und Szenen aufgeladene Sprach- und Zeichenwelt der Erwachsenen. Der siebzehnjährige Peter ist kein Lederjacken-Halbstarker, kein Beatnik, kein Randalesucher, keiner, der sich spontan in die wogende Menge wirft. Er braucht Überzeugungen, zu denen er stehen kann, die ihn leiten. Für ihn ist das »Stones«-Konzert an sich kein politischer Akt, aber die Art und Weise, wie die Polizei reagiert, wie sie als fühllose Ordnungsmacht auftritt, wie das Ereignis in den Medien beschrieben wird, voller Hohn, Unverständnis, Befremden und Vergeltungsverlangen, macht vielen Jugendlichen deutlich, wie autoritär diese Gesellschaft, wie unfähig und unwillig sie ist, die Perspektiven der Jugend überhaupt anzuerkennen. In diesen Jahren, die »langen fünfziger Jahre« gehen langsam zu Ende, bildet sich sein politisches Bewusstsein, vollzieht sich seine politische
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