Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Radikalisierung. Dabei ist er kein Karnevalist der Revolte, so wie Genosse Maus, er ist kein Mitläufer, keiner, der die Revolution als Mode versteht und sich vorübergehend in sie kleidet. Er meint es ernst, er geht methodisch an die Sache heran, fleißig, eifrig, beflissen, textgläubig, wissensdurstig, gründlich, selbstvergessen, er webt diesen Faden tief in seine Existenz.
Er war 1958 zunächst der Evangelischen Jungenschaft »Jochen Klepper« beigetreten, aus eigenem Anrieb, wie er betont, eine bündisch geprägte Gemeinschaft, in der Werte wie Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit hochgehalten werden, eine Gruppe, in der man gern singt, Wanderfahrten unternimmt und viel liest. Ein Vielleser ist Peter Brandt längst, als er 1963 den »Falken« beitritt, jener Nachwuchsorganisation, zu der »brave Sozialdemokraten früher ihre Kinder schickten«. Die Berliner »Falken« werden zu diesem Zeitpunkt von dem hemdsärmlig-proletarischen Harry Ristock geführt, ein SPD-Linker, der sich klar gegen den real existierenden Sozialismus in der DDR und der Sowjetunion abgrenzt, sich aber gleichwohl als entschiedener Marxist versteht. Weil Ristock 1968 als SPD-Genosse öffentlich gegen den Vietnamkrieg protestiert, wird er zeitweilig aus der SPD ausgeschlossen. Peter Brandt sucht unbeugsame Leitfiguren, und er sucht eine Position, von der aus er das bestehende politische System radikal in Frage stellen kann. Innerhalb der »Falken« schließt er sich 1966 einer sehr weit links agierenden Splittergruppe an, ehe er im Herbst 1968 eine eigene trotzkistische Organisation namens »Spartacus« mitbegründet und damit den sozialdemokratischen Jugendverband verlässt. Doch bevor es dazu kommt, engagiert sich Peter hingebungsvoll bei den »Falken«. Maria Jänicke, seine langjährige Freundin, leitet damals die Falkengruppe »Rosa Luxemburg«, während Peter alsbald zum Leiter der Gruppe »August Bebel« aufsteigt. Man trifft sich einmal in der Woche zur politischen Bildung, es werden sozialistische beziehungsweise marxistische Klassiker in Auszügen gelesen –, so verzeichnet das Protokoll der Sitzung vom 20. Juni 1968, man habe sich mit Lenins »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky« und mit Rosa Luxemburgs »Die russische Revolution« befasst. Man diskutiert – mit verteilten Pro- und Contra-Rollen – aktuelle politische Probleme wie die Apartheid in Südafrika oder geht gemeinsam ins Kino, um ausgewählte Filme wie »Asche und Diamant« (Andrzej Wajda) oder »Das Messer im Wasser« (Roman Polanski) zu sehen. Um den mitunter politisch trockenen Stoff aufzulockern – zu den Mitgliedern der Gruppe zählen neben Gymnasiasten auch Lehrlinge und Volksschüler –, werden mitunter wissensfördernde Ratespiele angeboten, zum Beispiel sollen die »Falken« herausfinden, welche politischen Köpfe die »Spiegel«-Titel zieren. Peter, erinnert sich einer, der dabei war, sei schon »ein kleiner Anführer« gewesen, belesen, intellektuell, wissbegierig, aktiv, vorneweg. Weil der Geschichtsunterricht in der Schule immer nur bis zum Ersten Weltkrieg reicht oder höchstens noch die Weimarer Republik streift, regt Peter erfolgreich an, dass Harry Ristock in die Schule eingeladen wird, um dort einen Vortrag zu halten. Noch weitaus prägender ist die Begegnung mit Oskar Hippe, einem führenden Trotzkisten und Widerstandskämpfer, der für seine politische Überzeugung im »Dritten Reich« und in der DDR ins Gefängnis ging. Diese biographisch-politische Unbeugsamkeit hat die »Falken«, zu denen Hippe mehrfach als Zeitzeuge eingeladen war, stark beeindruckt, und für Peter Brandt war die unbeirrbare Festigkeit des Mannes, sein nie verratendes Ideal ein wirkmächtiges Vorbild. Durch Hippe wurde Geschichte sichtbar, wurde Überzeugung greifbar, wurde gelebter Widerstand anschaulich und eindrucksvoll dokumentiert. Sie seien, sagt Maria Jänicke, von Hippe damals »total gebannt gewesen«, weil Wort und Tat bei ihm nicht auseinanderfielen, weil der Mann wahrhaftig war. Peter Brandt hebt im Interview die Kontinuität dieses Lebenslaufs hervor: »Oskar Hippe hatte noch den Spartakus-Aufstand 1919 mitgemacht und stammte sozial aus der Arbeiterschaft. Menschen wie er waren so beeindruckend, weil man das Gefühl hatte, unser politisches Engagement beginnt nicht erst 1967, sondern da existiert ein historischer Faden, der uns mit dem verbindet, was vor Hitler war. Dieser Faden mag nicht stark gewesen sein, aber es gab ihn. Und
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