Die Familie Willy Brandt (German Edition)
familiären und politischen Krisen …
Der große, alte Mann hört mir mit ausdruckslosem Gesicht zu. Obwohl er mich die ganze Zeit unverwandt anschaut, weiß ich nicht einmal mehr, was für eine Augenfarbe er hat. Ich stelle meine Fragen, er antwortet, ich mache Notizen. Die Antworten kommen rasch. Sie bergen keine Gefahr, sie haben Genschers Sicherheitsschleusen ohne Alarmsignal passiert.
»Mit ihm konnte man tiefere Gespräche führen …«
»Es gab ja eigentlich nur zwei Bundeskanzler, die Weichensteller waren, Adenauer und Brandt.«
»Bevor ich Brandt persönlich kennenlernte, entstand schon eine persönliche Beziehung zu ihm, weil ich die Diffamierungen ungerecht fand.«
»Das erste Kabinett Brandt war das beste Kabinett, dem ich jemals angehört habe.«
»Die Kabinettsitzungen mit dem Kanzler Brandt waren echte Aussprachen, bei den beiden anderen Bundeskanzlern Schmidt und Kohl war das nicht so.«
»Rut und Willy Brandt waren ein eindrucksvolles Paar.«
»Familiär gab es zwischen uns keine Berührungspunkte!«
»Ich habe es nicht als Schwäche empfunden, dass sich Brandt bisweilen zurückzog, dass er Ruhe brauchte, ein Mann wie er brauchte das.«
»Weich wäre ein völlig falsches Wort für seinen Charakter, überlegen Sie, wie der Mann kämpfen konnte, zum Beispiel für die Ostpolitik.«
»Ich lernte Willy Brandt besser kennen, nachdem er als Bundeskanzler zurückgetreten war und wir beide Parteivorsitzende unserer Parteien waren.«
»Brandt und Schmidt, das waren zwei völlig verschiedene Welten!«
Seine Antworten werden immer knapper, er sieht mich nach jeder Antwort herausfordernder an. Starrt mich an. Der Mann hat heute noch was vor, das ist unübersehbar. Ich beschließe, das Gespräch zu beenden. Ich hoffe ein wenig auf den Nachspann. Versuche noch einmal, seinem Blick standzuhalten, und komme mir plötzlich vor wie ein sowjetischer Unterhändler, mit dem er über den Austausch von Spionen verhandelt. So, sagt sein Blick, jetzt kommst du. Ich bewege mich keinen Millimeter.
»Herr Genscher, ist das eigentlich Ihr Dienst- und Diplomatenblick? So wie Sie mich jetzt ansehen?«
Ein Ruck geht durch den Mann, ein sanftes Aufschrecken, als hätte er jetzt wegen unvorhergesehener Turbulenzen den Autopilot-Modus beenden müssen. Er rückt seine Brille zurecht. Ich fühle mich verantwortlich für seine Verlegenheit und schiebe nach: »Ich meine, dass Sie so schauen können, das kann nicht jeder, die meisten Menschen halten das doch gar nicht aus, sich so anzusehen, also das ist sicher für einen Diplomaten ein unschätzbarer Vorteil, so ein Blick …«
Er murmelt, leicht unzusammenhängend, nein, nein, kein Dienstblick, vielleicht ein … nein … also … nein … das sei ihm jetzt gar nicht so klar gewesen, dass er … nein, kein Dienstblick …
Er ist jetzt etwas aufgeschlossener. Während unseres Gesprächs ist mir die mannshohe Pflanze aufgefallen, die neben dem Sofa steht. Einige Blätter sind zu Boden oder aufs Sofa gefallen, Genscher hat die ganze Zeit ein gelb gewordenes, runzliges Blatt zwischen den Fingern hin und her gedreht. Ist das vielleicht ein Benjaminus Ficus? »Nein«, antwortet er, »ich weiß nicht, wie der heißt.« Er betrachtet den Baum nachdenklich. »Wir haben den schon seit Jahrzehnten, irgendwann geschenkt bekommen, meine Frau hat ihn immer wieder zurückgeschnitten, aber er wächst und wächst. Er ist fast so etwas wie ein Haustier für uns, nein, trennen können wir uns nicht von ihm. Vielleicht haben wir ihn schon, seitdem wir hier wohnen. Wir sind in dieses Haus genau zu meinem fünfzigsten Geburtstag eingezogen.«
Und jetzt belebt sich sein Blick, da ist tatsächlich so etwas wie Genugtuung, ein Funkeln. Damals, zu seinem fünfzigsten Geburtstag waren alle da, die ganze Republik, sagt er, auch Willy Brandt. Und er erzählt, nicht ohne einen gewissen Stolz, dass das Haus mehr als 300 Quadratmeter Wohnfläche vorweisen kann. Sein Architekt habe ihm damals versprochen, von außen würde das Haus nicht groß wirken, aber nach innen würde es sich öffnen und sehr geräumig sein. In diesen Tagen steht Bundespräsident Wulff kurz vor seinem Rücktritt. Er steht unter Beschuss, weil die Finanzierung seines Eigenheims, das keineswegs schlossähnliche Ausmaße hat, unter fragwürdigen Umständen zustande gekommen ist. Der deutsche Politiker, denke ich, musste immer ein Bescheidenheitsdarsteller sein, Vermögen, Besitz oder gar Reichtum auszustellen war
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