Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Ihlefeld nie gegeben. Ihre Gespräche drehten sich um politische Angelegenheiten, oft um das Thema Gleichberechtigung, vieles war – am Rande eines Parteitages oder einer Wahlveranstaltung – dem aktuellen Tagesgeschehen verhaftet. Sie habe, sagt Heli Ihlefeld, oft mit Brandt über das Thema der Gleichstellung gesprochen und sich dann gefreut, wenn es vermehrt in seinen Reden anklang. Offenbar hatte er zugehört. Zwischen ihnen stand immer das Amt, der Apparat, deshalb haben sie auch nie miteinander telefoniert, immer trennte sie die Stimme eines anderen. Das emotionale, sich selbst beschreibende und erkundende Ausdrucksvermögen, das Storz Brandt hier zuspricht, auf die Seele schreibt, war Brandt im persönlichen Gespräch nicht gegeben. Der Film zeigt eine Fiktion, eine künstlerische »Männerphantasie«, zweifellos eine, die ihm gewogen ist. Das existentialistische Pathos (»von einem Exil ins andere gegangen«) war ihm als individuell-melodramatisches Bekenntnis fremd. Der Film muss dramatisieren, das ist legitim, Brandt hingegen waren noch dort dramatische Posen und Worte zuwider, wo das Leben zweifelsfrei dramatisch war. Der Ton war durchweg sachlicher, undramatischer, sprach- und bildloser.
Zwar ist die Szene ihres Abschieds tatsächlich dramatisch, aber sie kommt ohne Worte aus, weil es ein Abschied aus der Distanz ist. Nachdem Brandt seinen Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers erklärt und der Rundfunk des NDR die Nachricht in der Nacht vom 7. Mai 1974 um 24 Uhr in die Welt hinausgeschickt hatte, versammelten sich vor Brandts Villa im Kiefernweg ein paar hundert Menschen. Treueschwüre, Fassungslosigkeit, Resignation, ja auch Angst. Gespenstische Stimmung. Viele weinen unverhohlen. Brandt steht im Schatten von Holger Börner, das Gesicht, die Haltung, der Körper versteinert wie immer, wenn es innerlich emotional in ihm arbeitet und tobt. Ein Fackelzug der Jungsozialisten zieht vorbei, unruhig flackernde Schatten auf Brandts Gesicht. Heli Ihlefeld steht allein und unerkannt in der Menge, sie weint, fühlt sich »unendlich einsam« und ist auch voller Angst, dass ihr Name in den Medien genannt, dass sie gehetzt, schuldiggesprochen, dass ihre Familie in den Sog der Schlagzeilen gezogen wird und unter dem Druck zerbricht.
Jahre später. Brandt schreibt Heli Ihlefeld ein letztes Mal. Sein Sturz ist bereits Geschichte, er selbst nach einem verschleppten Herzinfarkt knapp dem Tod entkommen. Jetzt weilt er im südfranzösischen Hyères zur Kur, verbittet sich den Besuch seiner Frau Rut, von der er sich trennen will, nicht wissend, wie, wird umsorgt von Brigitte Seebacher und schreibt am 27. Januar 1979 vom Krankenlager: »Liebe Heli, als ich mich hier Anfang des Monats gerade zurechtgefunden hatte, erreichten mich über Lothar Deine guten Wünsche, über die ich mich sehr gefreut habe. Es hatte mich böse erwischt, aber nun spricht alles dafür, daß ich gesünder sein werde, als ich es seit Jahren war (allerdings ohne Nikotin und ›nur‹ noch mit Rotwein). Ich wünsche Dir viel Gutes und sende herzliche Grüße! W.« Es ist der erste und zugleich letzte Brief, in dem Willy Brandt die frühere Gefährtin mit dem wärmeren »Du« anspricht. Und er vergisst nicht, ihr mitzuteilen, dass ihm die treueste Freundin fortan fehlen wird: die Zigarette.
Genscher sieht dich an
Im Lauf seines Lebens wird jeder Mensch zur Kunstfigur. Nicht nur die, die wir im Fernsehen sehen, nicht nur die, von denen wir in den Büchern und Zeitschriften lesen, nicht nur die, denen die Öffentlichkeit ein Image auf die Haut tätowiert. Jeder setzt sich aus den unterschiedlichsten Erzählungen zusammen, jeder wird erzählt, zusammengestückelt, beschrieben und etikettiert. Hans-Dietrich Genscher ist auf jeden Fall eine Kunstfigur, und ob er in irgendeinem Bereich seines Lebens keine ist, wird er vermutlich selbst nicht wissen.
Wir kennen ihn. Glauben, ihn zu kennen. Er ist immer dabei gewesen. Der Mann mit den großen Ohren, der Mann mit dem gelben Pullover, der Mann, den die sonst so bissige Satire-Zeitschrift »Titanic« wegen seiner diplomatischen Unrast und Unentbehrlichkeit 1989 ungewohnt liebevoll »Genschman« taufte. Er, der weltumrundende Vielflieger, der, so witzelte man, sich dabei schon mal selbst begegne, der von 1965 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages war und unter den Bundeskanzlern Brandt, Schmidt und Kohl länger als jeder andere Minister dieses Landes im Amt blieb. Ein Überlebenskünstler, ein
Weitere Kostenlose Bücher