Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Seiltänzer, ein Mann mit starken Nerven. Er ist der Mann auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag: »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …« Der kollektive Aufschrei, Jubel, Tränen, tausendmal gesehen, tausendmal Gänsehaut.
Willy Brandt, das darf man sagen, hat ihn nicht gemocht, respektiert ja, gemocht nicht. War ihm zu quecksilbrig, zu elastisch, zu ideenlos, politisch zu wenig zu fassen, zu betriebsam. Hatte ihn der Innenminister Genscher in der Guillaume-Affäre nicht in eine verhängnisvolle Konstellation manövriert? Hatte Genscher nicht seine Hände in Unschuld gewaschen, während er, Brandt, Verantwortung übernahm für die Fehler des aalglatten FDP-Mannes? Und hatte ihm der karrierebewusste Aufsteiger aus Halle im Hinblick auf den Fortbestand der sozialliberalen Koalition nicht schmerzhaft vor Augen geführt, dass gerade er, der Kanzler, die Nummer 1, der Charismatiker, entbehrlich war? Für ihn, für Brandt, stand schon Helmut Schmidt zum Austausch bereit, aber niemand konnte Hans-Dietrich Genscher, den zukünftigen FDP-Vorsitzenden, Außenminister und Vizekanzler, ersetzen. Zu ihm gab es keine Alternative. Brandt ist nicht an Genscher gescheitert, aber der war ein Weichensteller seines Scheiterns. Diese Rolle wird er 1982 noch einmal spielen, als er die Weichen für den Wechsel zur CDU stellt und damit Helmut Schmidt als Kanzler scheitern lässt, woraufhin der sonst so distinguierte Regierungssprecher Klaus Bölling Genscher wütend einen »heillosen Advokaten« nennt (wofür sich Bölling übrigens später bei Genscher entschuldigt hat).
Das ist also Hans-Dietrich Genscher, geboren 1927 in Halle, wohnhaft in Wachtberg bei Bonn, ein Mann, dem Walter Scheel einmal bescheinigte, er könne nicht wie andere nur um die Ecke, sondern gleich ums »Karree denken«, und über den Egon Bahr, wahrhaft ein listenreicher Mann, in seinen Erinnerungen urteilt, er habe niemals »größere taktische Meisterschaft erlebt«. Vielleicht, denke ich, ist Genschers politischer Überlebenswille, sein atemloses Hinaufklettern, seine berüchtigte Elastizität auch eine Folge seiner Jugend. Er ist erst zehn Jahre alt, als der Vater stirbt, er muss sich früh recken, abstrampeln, Verantwortung tragen. Als junger Mann erkrankt er an Tuberkulose und liegt jahrelang im Krankenhaus. Einer, den das Leben so früh hingeworfen, so ans Bett gefesselt hat, will sich nie wieder hinlegen.
Nein, sagt der Taxifahrer, Genscher habe er nicht gefahren, aber Rut Brandt schon, das sei ja eine »fabelhafte, freundliche Frau« gewesen. Hans-Dietrich Genschers Wohnort ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen. Was verspreche ich mir von einem Interview mit Hans-Dietrich Genscher, dem Meister der undeutlichen Rede, der für solche Gelegenheiten, bemerkte der Politikwissenschaftler Franz Walter einmal, einen »Bausteinkasten von rhetorischen Allgemeinheiten« besitzt? Vielleicht muss man, wenn man Genscher nach Brandt und seinem Verhältnis zu ihm befragt, eher auf das Ungesagte achten? Und vielleicht ist der Typus des Politikers, den Genscher verkörpert, der Typus des effizienten Machttechnikers, ein guter Kontrast, um einen so anderen Typ wie Willy Brandt in seiner Aura zu fassen. Aber vielleicht packt Genscher doch aus? Vielleicht bekennt er Ungeheuerliches? Warum sonst hatte mir sein Büro ausrichten lassen, Herr Genscher sei gerne zu einem Gespräch mit mir bereit, aber nur ohne Aufnahmegerät! Das sei die Bedingung! So was sagt man doch nicht, wenn man nichts sagen will?
Die Tür wird unverzüglich und ruckhaft geöffnet. So als habe er mich schon hinter der Tür stehend erwartet. Ein starker Händedruck, er sieht – durch mich hindurch – mich an, nimmt den Blumenstrauß für seine Frau (sie mag Anemonen, hatte die Bürodame gesagt), befördert ihn auf dem kürzesten Weg in die Küche, überhört meine Smalltalk-Floskeln (»schön haben Sie es hier«) und befindet sich schon schnurstracks auf dem Weg ins Wohnzimmer, während ich noch im Flur stehe und ablege. Dieser Mann hat wirklich keine Zeit zu verlieren. Ich folge ihm. Da sitzt er schon auf einem Sofa. Empfangs- und sendebereit. Ich trotte hinterher, fühle mich eingerostet und alt angesichts dieser körperlich vorgetragenen Leistungsbereitschaft. Ich erkläre kurz, wer ich bin und was ich mache. Dass ich den Menschen Brandt stärker … dass ich das Private und das Politische … dass ich die Verbindung zwischen
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