Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Politik aufgeben solle. Im Herbst und Winter 1965 war es Brandt schlechtgegangen. Die dumpfe Niedergeschlagenheit, in die er regelmäßig im Herbst versank, war schwärzer als sonst, und für einen Moment trat der Tod an ihn heran und fragte, wie es um ihn stehe, ob er genug habe oder noch ein bisschen bleiben oder doch gehen wolle? Er bricht zu Hause zusammen, man vermutet zunächst einen Herzinfarkt. Während sich die Ärzte um ihn bemühen, zieht sein Leben wie in einem Film an ihm vorüber, und er schaut schon auf die andere Seite des Flusses. Doch es kann kein organischer Schaden diagnostiziert werden. Brandt überwindet die seelische und körperliche Krise, er macht weiter.
Der Sprung nach Bonn ist also kein euphorischer, sondern erst einmal ein mürrischer Wechsel, zumal Rut Brandt entschieden feststellt: »Ich bin eine Berlinerin!« Peter Brandt bleibt wie erwähnt wegen des Abiturs in Berlin, kommt in den nächsten Jahren nur besuchsweise und gelegentlich in den Ferien mit der Familie zusammen und wohnt im Haus der Familie seines besten Freundes Wolf-Rüdiger Knoche. Auch Lars ist zunächst alles andere als angetan und tut sich mit dem Wechsel schwer. Es dauert seine Zeit, ehe er in Bonn Fuß fasst und ankommt, dann aber wurzelt er hier umso fester. Am leichtesten gelingt es naturgemäß dem Jüngsten in der Familie, seine Berliner Zelte abzubrechen, er erlebt den Umzug als abenteuerliche Reise. Demütigend ist nur, dass er in Bonn nicht wie in Berlin zur Vorschule geht, sondern noch einmal in den Kindergarten muss. Aus Protest besteht er darauf, fortan mit dem Gokart vor dem Kindergarten vorzufahren, um wenigstens so seinen Status zu demonstrieren: fast schon groß! Aber schon bald lässt er sich von dem neuen Zuhause, dem weitläufigen Areal und den neuen Abenteuermöglichkeiten gewinnen.
Das neue Domizil ist nicht ohne Reize. Es befindet sich auf dem Venusberg, von wo aus man auf die Stadt hinabschaut. Eine kurvenreiche Straße führt nach oben, wo es 176 Meter über dem Meeresspiegel noch dörflicher zugeht als im ohnehin beschaulichen Bonn. Auf dem Venusberg, wo die Bäume dicht an dicht stehen, wo man einander kennt, wo im Winter der Schnee länger liegen bleibt, wo der Hund begraben liegt, wo die einzige Sehenswürdigkeit ein kümmerliches und verwittertes Kaiser-Wilhelm-Denkmal darstellt. Hier oben lässt sich nach 1949 bevorzugt die politische Klasse nieder. Das weiße Haus mit den elf Zimmern, das die Brandts im Frühjahr 1967 beziehen, beherbergte zuvor Brandts CDU-Amtsvorgänger Gerhard Schröder. Die Dienstvilla des Außenministers wird nun sieben Jahre das Zuhause der Familie Brandt, obschon sie, nachdem Brandt 1969 zum Kanzler gewählt wird, eigentlich in den modernen Kanzlerbungalow umziehen müsste, doch der Venusberg lässt die Brandts nicht los.
Ein merkwürdiges Haus, eine denkwürdige Familie, wo soll man da beginnen? In diesem Haus mischen sich privates und politisches Leben, intime und öffentliche Gesten siedeln dicht beieinander, familiäre und repräsentative Arrangements schlingen ein gemeinsames Band. Brandt war der erste Kanzler, der eine sichtbare, ja eine kontroverse, eine dynamische Familie anzubieten hatte. Vorher gab es an der Seite von Politikern folgsame Kinder und dienende Frauen zu beobachten, Familie als Anhängsel, Familie im Schattenreich, schmückendes Beiwerk, das naturwüchsig die unumstößliche konservative Lebensordnung zu verkörpern hatte: Kinder, Küche, Heim, Herd, Hausfrau, Kirche, keine Klagen. Doch das öffentliche Bild der Brandts war widerspruchsvoller. Da war die »schöne Norwegerin« an Brandts Seite, über die in den Medien schon mal gemutmaßt wurde, sie sei eine Kommunistin gewesen. Da war der »rote Peter«, der als rebellischer Aktivist seinem Vater viel Ungemach bereitete. Da waren Lars und Peter, die doppelten Mahlkes aus dem »Skandal-Film« Katz und Maus (1966), in dem der jüngere Brandt-Sohn das Ritterkreuz entehrt. Ja, war dieser Lars Brandt nicht auch ein Tunichtgut wie sein Revoluzzer-Bruder? Man hatte ihn doch in Berlin auch einmal in Polizeigewahrsam genommen, weil er sich an der Gedächtniskirche für die dort herumlümmelnden »Gammler« eingesetzt hatte. Und dann der Herr des Hauses selbst, dass der kein Kostverächter war, schien noch das geringste Problem zu sein. Zur Kirche ging der auch nicht, aber schlimmer: Hatte der ein Vaterland? War dieser Mann nicht ein windelweicher Hausherr, der sich von den Kommunisten genauso um
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