Die Familie Willy Brandt (German Edition)
gefährlich in der engen Bonner Demutsrepublik und ist es noch in der Berliner. Das Eigenheimglück, Wunschtraum der Deutschen, darf sich nicht zu sehr abheben vom Maß der Mitte.
Unser Gespräch hat sich erschöpft. Da Genscher in dem Interview erzählt hat, er sei mit Horst Ehmke befreundet und gehe mit ihm gelegentlich essen, frage ich, ob er einen Kontakt herstellen könne. Ohne Umschweife zieht er ein Handy aus der Hosentasche, achtet nicht auf meinen Einwand (»Ich würde ihn lieber anschreiben«), und schon ist Ehmke am Apparat. »Ja, hallo, Horst, hier ist Hans-Dietrich … ja, grüß dich, ja, mir geht es gut … sehr gut … (dann sieht Genscher mich an, und ich merke, dass dieser Witz für mich bestimmt ist) ja … selbst wenn man mir ein Bein abnehmen würde, ginge es mir noch besser als meiner Partei (Ehmkes heiseres Lachen dringt aus dem Handy) … Ja, Horst, hör zu, ich hab hier einen jungen Mann … wie heißen Sie noch mal? … ja, er soll dich anrufen … gut … und grüß auch deine Frau.«
Genscher springt auf. Eilt zur Tür, ruft seine Frau: »Barbara! Barbara!« Keine Antwort. Nur ein schütteres, weit entferntes Geräusch zeigt an, dass sich oben jemand aufhalten muss. Genscher ist schon am Wagen, ich stehe noch im Flur.
»Worauf warten Sie?«
»Ich dachte … weil Sie keine Jacke … haben Sie einen Schlüssel?«
»Nun kommen Sie!«
Genscher fährt einen großen, silberfarbenen Audi. Kaum sind wir eingestiegen, bedient er ein hochmodernes Navigationsgerät, das zugleich ein Autotelefon enthält.
»Ja, hier Genscher. Ich hole die Post. Andere Termine? … Seien Sie bitte unten, ich bin gleich da!«
Ich verstehe. Der Mann fährt mich nicht aus Menschenliebe zum Bahnhof, er will die Post aus seinem Büro abholen, er erwartet etwas, er ist ungeduldig, er erwartet immer etwas. Die Post! Der Mann will wissen, was die Welt macht! Während unserer kurzen Fahrt ruft er mehrfach im Büro an. Er will keine Zeit verlieren, er ist ein Präzisionsarbeiter. Ich packe mein Bauchpinsel-Set aus: »Einen Mann Ihrer Tatkraft könnte die FDP heute gut gebrauchen!« Gerade sind die Gelben bei der Landtagswahl in Berlin unter zwei Prozent geblieben. Ich höre keinen Widerspruch. Ich frage ihn, ob seine Tochter in der Nähe wohnt und wie es ihr geht.
»Wie kommen Sie denn jetzt da drauf?«, fragt er überrascht.
»Na ja, ich schreibe doch auch über Brandt als Familienvater, und ich versuche für mich herauszufinden, ob ein Berufspolitiker auch Familienmensch sein kann. Deshalb habe ich …«
»Ich versuche, bei meinen Enkeln das richtig zu machen, was ich bei meiner Tochter falsch gemacht habe.«
Herbstland.
Wir sind da. Am Straßenrand steht eine blasse, eingeschüchtert wirkende junge Frau. Das Postfräulein. Sie hält mit Mühe einen schwarzen schweren Diplomatenkoffer, den sie auf der Rückbank verstaut. Dann reicht sie ihm durch die Beifahrertür die Unterschriftenmappe. Ich bin jetzt Schreibtisch. Das Fräulein sieht aus wie eine Büroklammer. Genscher unterzeichnet vier Briefe. Noch ein kurzes Stück. Wir sind am Bahnhof. Kurzer Abschied. Der silberfarbene Wagen stößt forsch auf die Straße. Jemand hupt.
Der Außenminister a.D. gibt Gas.
Auf dem Venusberg
»Es geht darum, die Angst abzuschaffen, und das ist manchmal echt viel Arbeit.«
Matthias Brandt in »Schattenväter«
Eine Familie kann in einem Haus, aber zugleich unter sehr verschiedenen Dächern leben, und selbst wenn man in einem Zimmer zusammenkommt, heißt das noch nicht, dass man zusammenfindet.
Willy Brandt tritt 1966 zögerlich und widerstrebend in die große Koalition aus CDU und SPD ein. Die Genossen drängen ihren Parteivorsitzenden, Außenminister und Vizekanzler zu werden. Doch Brandt hat einen geradezu körperlichen Widerwillen, sich in dieses Kabinett einzufügen, weil es von dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger geführt wird. Brandt reagiert geradezu allergisch auf dessen körperliche Präsenz, igelt sich ein, verstummt, verschnupft. Dennoch lässt er sich überzeugen, Berlin aufzugeben und nach Bonn zu ziehen. Die Familie folgt ihm, ebenfalls wenig begeistert. Rut Brandt hatte sich an ihre Rolle in Berlin gewöhnt, und nachdem ihr Mann zweimal als Kanzlerkandidat gescheitert war, hatte sie kaum noch damit gerechnet, die Bühne vertauschen zu müssen. Ja, nach der Niederlage von 1965 war zwischen den Eheleuten diskutiert worden, ob man sich nach Norwegen zurückziehen und Brandt die
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