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Die Farbe der Gier

Die Farbe der Gier

Titel: Die Farbe der Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe der Gier
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Gebäude befunden hatte, erzählte immer wieder, was an jenem bitterkalten Februarnachmittag geschehen war. Einige der Erzählungen waren von zweifelhafter Glaubwürdigkeit, andere reine Erfindung, aber an den Fakten war nicht zu rütteln. Ein Laster voll mit Sprengstoff war in den Keller des Gebäudes gesteuert worden. Als er explodierte, starben sechs Menschen und über 1000 wurden verletzt. Fünf Kellergeschosse wurden völlig zerstört und die Rettungsdienste brauchten Stunden, um das Gebäude zu evakuieren. Seit damals musste jeder, der im World Trade Center arbeitete, regelmäßig an Feueralarmübungen teilnehmen. Anna versuchte sich zu erinnern, was sie in einem solchen Notfall tun sollte.
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    Ihr fielen die klaren Anweisungen ein, die in roten Lettern über den Türen zu den Treppenhäusern in jedem Stockwerk standen: ›Im Notfall nicht an den Schreibtisch zurückkehren und nicht den Aufzug benutzen. Fliehen Sie über die nächst gelegene Treppe.‹ Aber zuerst musste sie herausfinden, ob sie überhaupt aufstehen konnte. Ihr war bewusst, dass die Decke über ihr eingestürzt war und das Gebäude immer noch schwankte.
    Versuchsweise richtete sie sich auf und obwohl sie an mehreren Körperstellen blaue Flecke und Schürfwunden hatte, schien nichts gebrochen zu sein.
    Anna ließ die Reste des Kartoninhalts liegen und kämpfte sich langsam zum Treppenhaus C in der Mitte des Gebäudes vor.
    Einige ihrer Kollegen erholten sich ebenfalls vom ersten Schock und ein oder zwei kehrten sogar an ihre Schreibtische zurück, um persönliche Gegenstände zu holen.
    Als Anna durch den Flur schritt, wurde sie mit Fragen bombardiert, auf die sie keine Antworten wusste.
    »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte eine Sekretärin.
    »Sollen wir nach oben oder nach unten?«, erkundigte sich eine Putzfrau.
    »Sollen wir warten, bis wir gerettet werden?«, wollte ein Aktienhändler wissen.
    Das waren eigentlich Fragen für den Sicherheitschef, aber Barry war nirgends zu sehen.
    Sobald Anna die Treppe erreicht hatte, schloss sie sich einer Gruppe verwirrter Menschen an – einige stumm, andere weinend –, von denen niemand die leiseste Ahnung zu haben schien, was die Explosion verursacht hatte oder warum das Gebäude immer noch schwankte. Obwohl mehrere Lichter im Treppenhaus wie Kerzen ausgeblasen worden waren, leuchteten die Streifen an jeder Treppenstufe hell zu Anna auf.
    Einige ihrer Begleiter versuchten, mit dem Handy die Außenwelt zu erreichen, aber nur wenige hatten damit Erfolg.
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    Eine Frau, die durchgekommen war, redete mit ihrem Freund.
    Sie erzählte ihm, dass ihr Chef ihr erlaubt hatte, nach Hause zu gehen und sich den Rest des Tages frei zu nehmen. Ein anderer berichtete den Umstehenden, was seine Frau ihm am Telefon mitteilte: »Ein Flugzeug ist in den Nordturm geflogen«, verkündete er.
    »Aber wo? Wo?«, riefen mehrere Stimmen gleichzeitig. Er stellte seiner Frau dieselbe Frage. »Über uns. Irgendwo in einem der 90er-Stockwerke«, leitete er ihre Antwort weiter.
    »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte der Chefbuchhalter, der sich nicht von der obersten Treppenstufe rührte. Der jüngere Mann wiederholte die Frage für seine Frau und wartete auf ihre Antwort.
    »Der Bürgermeister rät jedem, das Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen.«
    Als sie diese Nachricht hörten, machten sich alle Leute im Treppenhaus an den Abstieg zum 82. Stock. Anna sah durch das Glasfenster zurück. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie sehr viele Menschen, die an ihren Schreibtischen verharrten, als ob sie sich in einem Theater befanden, nachdem der Vorhang gefallen war, und noch warten wollten, bis sich die Menge zerstreut hatte.
    Anna hielt sich an den Rat des Bürgermeisters. Sie zählte die Stufen auf ihrem Abstieg – 18 von Stock zu Stock, was nach kurzem Nachrechnen bedeutete, dass sie noch mindestens 1500
    Stufen zurücklegen musste, bevor sie die Lobby erreichte. Die Treppe wurde immer voller. Dutzende von Menschen
    schwärmten aus ihren Büros und schlossen sich ihnen an, es war wie in der U-Bahn während der Rushhour. Anna war überrascht, wie ruhig sich der Abstieg vollzog.
    Die Treppe teilte sich rasch in zwei Spuren auf; die Innenseite war für die langsameren Modelle, während die neueren auf der äußeren Spur überholten. Aber wie auf jeder Autobahn hielten 60
    sich nicht alle an die Regeln, darum kam es regelmäßig zu einem kompletten Stopp, bevor der Abstieg weiterging. An jedem neuen Treppenabsatz

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