Die Farbe der Gier
Sie nahm ihre Baseballkappe ab, um ihre langen, blonden Haare und ihre helle Haut zu präsentieren.
»Warum wollen Sie nach New Jersey?«, erkundigte sich der Polizist, der ihren Ausweis prüfte.
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»Eine Freundin von mir hat im Nordturm gearbeitet und sie wird immer noch vermisst.« Anna schwieg kurz. »Ich dachte, ich verbringe den Tag mit ihren Eltern.«
»Tut mir Leid, Madam«, sagte der Polizist, »ich hoffe, man findet sie.«
»Danke.« Anna zog rasch ihren Koffer über die Gangway auf die Fähre. Es quälten sie solche Schuldgefühle, weil sie den Polizisten angelogen hatte, dass sie nicht zu ihm zurücksehen konnte. Sie lehnte sich über das Geländer und starrte auf die graue Wolke, die immer noch über dem Schutthaufen des World Trade Center und über mehrere Häuserblocks zu beiden Seiten schwebte. Anna fragte sich, wie viele Tage, Wochen oder gar Monate es dauern würde, bevor sich diese dichte Rauchdecke auflösen würde. Und was würde man mit diesem desolaten Ort anfangen, wie würde man die Toten ehren? Sie hob den Blick und starrte in den blauen Himmel über ihr. Etwas fehlte.
Obwohl sie nur wenige Meilen von den Flughäfen JFK und La Guardia entfernt waren, gab es keine Flugzeuge am Himmel, als ob sie alle, ohne Vorwarnung, in einen anderen Teil der Welt fortgezogen wären.
Der alte Schiffsmotor erwachte vibrierend zum Leben und die Fähre entfernte sich auf ihrer kurzen Reise über den Hudson nach New Jersey langsam vom Kai.
Die Turmuhr am Kai schlug ein Uhr. Der halbe Tag war schon vorbei.
»Die ersten Flugzeuge werden frühestens in zwei Tagen von JFK abheben«, berichtete Tina.
»Gilt das auch für Privatflugzeuge?«, fragte Fenston.
»Es gibt keine Ausnahmen«, versicherte ihm Tina.
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»Die königliche Familie von Saudi Arabien darf morgen ausfliegen«, warf Leapman ein, der neben dem Vorsitzenden stand.
»Aber anscheinend sind sie die Einzigen.«
»In der Zwischenzeit versuche ich, Sie auf die Prioritätenliste zu bekommen, wie die Presse es genannt hat«, sagte Tina, die beschlossen hatte, lieber nicht zu erwähnen, dass die Zollkontrolle seinen Wunsch, einen van Gogh von Heathrow abzuholen, nicht in die Kategorie Notfall einstufte.
»Haben wir irgendwelche Freunde auf dem JFK?«, erkundigte sich Fenston.
»Mehrere«, erwiderte Leapman. »Aber die scheinen alle plötzlich viele reiche Verwandte zu haben.«
»Andere Ideen?« Fenston sah zu ihnen beiden auf.
»Sie könnten die Grenze nach Mexiko oder Kanada
überqueren«, schlug Tina vor. »Von dort können Sie einen Linienflug nehmen.«
Sie wusste nur zu gut, dass er das nicht in Betracht ziehen würde.
Fenston schüttelte den Kopf und wandte sich an Leapman.
»Versuchen Sie, einen unserer Freunde zu einem Verwandten zu machen – irgendjemand wird schon etwas wollen«, fügte er hinzu.
»Das ist immer so.«
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17
»ICH NEHME JEDES AUTO, das Sie haben«, sagte Anna.
»Ich habe aber im Moment keinen Wagen zur Verfügung«, erklärte der erschöpft aussehende junge Mann hinter der Theke der Happy Hire Company, auf dessen Plastikausweisschild der Name Hank prankte. »Und ich rechne auch nicht damit, dass vor morgen Vormittag ein Wagen zurückgegeben wird«, fügte er hinzu, womit er das Motto der Firma, das über der Theke angeschrieben stand, Lügen strafte: NIEMAND VERLÄSST
HAPPY HIRE OHNE EIN LÄCHELN IM GESICHT. Anna
konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.
»Vermutlich wollen Sie keinen Lieferwagen mieten?«, schlug Hank vor. »Es ist nicht gerade das neueste Modell, aber wenn Sie so dringend …«
»Ich nehme ihn.« Anna war sich der langen Schlange an Kunden hinter ihr bewusst, die sie vermutlich allesamt telepathisch dazu bewegen wollten, Nein zu sagen. Hank legte ein Formblatt in dreifacher Ausfertigung auf die Theke und füllte die kleinen Kästchen aus. Anna schob ihm ihren Führerschein zu, den sie zusammen mit ihrem Pass eingepackt hatte, woraufhin er noch mehr Kästchen ausfüllen konnte. »Wie lange benötigen Sie das Fahrzeug?«, fragte Hank.
»Einen Tag, vielleicht zwei – ich gebe es am Flughafen Toronto zurück.«
Sobald Hank mit all den kleinen Kästchen fertig war, drehte er das Formblatt um, damit Anna unterschreiben konnte.
»Das macht dann 60 Dollar. Und ich brauche 200 Dollar Kaution.«
Anna runzelte die Stirn und reichte ihm 260 Dollar.
»Ich brauche außerdem Ihre Kreditkarte.«
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Anna schob einen weiteren 100-Dollar-Schein über die Theke.
Das war das erste Mal, dass
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