Die Farbe der Gier
ich wiederhole: verdreifachen.«
Fenston legte den Hörer auf. Er war sicher, dass sie sich nur an ein einziges Wort erinnern würde: »verdreifachen«. Er lag falsch. Ruth war verblüfft, dass er die Angriffe auf die Zwillingstürme nicht erwähnt hatte und auch mit keinem Wort auf Anna zu sprechen gekommen war. Hatte Anna überlebt und wenn ja, warum reiste sie nicht nach London, um das Gemälde abzuholen?
Tina hatte jedes Wort von Fenstons Unterredung mit Ruth Parish auf der Leitung in ihrem Büro mitbekommen, ohne dass der Vorsitzende das bemerkt hatte, und wünschte sich, sie könnte mit Anna Kontakt aufnehmen und ihr diese Information rasch weitergeben – eine Entwicklung, an die keine von beiden gedacht hatte. Aber vielleicht rief Anna ja an diesem Abend an.
Tina legte den Telefonschalter um, ließ aber den kleinen Überwachungsbildschirm eingeschaltet, der sich an der Seite ihres Schreibtisches befand. Dank ihm konnte sie jeden beobachten, der Kontakt mit dem Vorsitzenden aufnahm; noch 106
etwas, dessen sich Fenston nicht bewusst war, aber er hatte auch nicht danach gefragt. Fenston würde ihr Büro niemals betreten, solange er einen Knopf drücken konnte, der sie zu ihm rief. Und wenn Leapman ihr Zimmer betrat – ohne anzuklopfen, wie es seine Gewohnheit war –, schaltete sie den Bildschirm rasch aus.
Als Leapman die Büroräume im 32. Stock vorübergehend angemietet hatte, hatte er keinerlei Interesse am Büro der Sekretärin gezeigt. Seine einzige Sorge schien der Tatsache zu gelten, den Vorsitzenden auch ja im größten Raum
unterzubringen, während er selbst ein Büro am anderen Ende des Flurs nahm. Tina hatte nichts von ihren technischen Extras erwähnt. Ihr war bewusst, dass es irgendwann jemand herausfinden würde, aber bis dahin hatte sie womöglich schon alle Informationen gesammelt, die sie brauchte, um dafür zu sorgen, dass Fenston weitaus Schlimmeres erleiden musste, als er ihr angetan hatte.
Nachdem Fenston Ruth Parish den Hörer förmlich vor die Nase geknallt hatte, drückte er den Knopf auf seinem Schreibtisch. Tina griff nach Notizblock und Bleistift und ging in das Büro des Vorsitzenden.
»Sie müssen als Erstes herausfinden, wie viele Leute ich noch habe«, fing Fenston an, noch bevor Tina die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Stellen Sie sicher, dass alle erfahren, wo wir jetzt arbeiten, damit sie sich unverzüglich hier melden können.«
»Wie ich sah, war der Sicherheitschef einer der Ersten, die sich heute Morgen zur Arbeit eingefunden haben«, sagte Tina.
»Ja, stimmt«, erwiderte Fenston, »und er hat bereits bestätigt, dass er innerhalb weniger Minuten, nachdem das erste Flugzeug in den Nordturm geflogen ist, alle Angestellten angewiesen hat, das Gebäude zu verlassen.«
»Und hat selbst die Flüchtenden angeführt, wie man mir mitgeteilt hat«, meinte Tina mit beißendem Spott.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«, bellte Fenston und sah auf.
107
Tina bedauerte ihre Worte sofort und drehte sich rasch zum Gehen um. »Ich lege Ihnen die Namensliste bis Mittag auf den Schreibtisch.«
Den Rest des Morgens verbrachte sie damit, die 43
Angestellten zu erreichen, die im Nordturm gearbeitet hatten.
Bis zwölf Uhr hatte Tina 34 von ihnen abgehakt. Sie legte Fenston die provisorische Liste mit den neun Namen, die noch fehlten und als tot galten, auf den Schreibtisch, bevor er zum Mittagessen ging. Anna Petrescu war der sechste Name auf dieser Liste.
Zu der Zeit, als Tina die Liste auf Fenstons Schreibtisch legte, hatte Anna es mit Taxi, Bus, zu Fuß und dann wieder mit dem Taxi zu Pier 11 geschafft. Dort stellte sie allerdings fest, dass eine lange Schlange von Menschen geduldig darauf wartete, an Bord einer Fähre nach New Jersey zu kommen. Sie stellte sich an, setzte eine Sonnenbrille auf und zog das Schild ihrer Baseballkappe tiefer, bis man ihre Augen kaum noch sehen konnte. Sie hielt die Arme verschränkt, den Kragen ihrer Jacke hochgestellt und den Kopf gesenkt, so dass nur ein höchst unsensibles Individuum auf den Gedanken gekommen wäre, eine Unterhaltung mit ihr anzufangen.
Die Polizei überprüfte die Identität jedes Einzelnen, der Manhattan verlassen wollte. Anna sah, wie ein dunkelhaariger, dunkelhäutiger, junger Mann zur Seite genommen wurde. Der arme Mann wirkte wie betäubt, als ihn drei Polizisten umstellten. Einer feuerte Fragen auf ihn ab, die anderen beiden tasteten ihn ab.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Anna den Kopf der Schlange erreichte.
Weitere Kostenlose Bücher