Die Farbe der Gier
nach dem Unterricht eine Überwachung durchgeführt. Er folgte einem der neuen Rekruten nach Hause. Wenn man es schaffte, ihn abzuhängen, bekam man eine Belobigung. Jack schaffte noch mehr: Nachdem er den Ausbilder abgehängt hatte, verfolgte er ihn anschließend nach Hause, ohne bemerkt zu werden.
Jack erklomm die Stufen zum Flugzeug. Er sah sich nicht um.
Als Anna kurz nach neun aus dem Hotel trat, wartete Sergei bereits neben seinem alten Mercedes auf sie.
»Guten Morgen, Sergei«, sagte sie, als er ihr den hinteren Wagenschlag öffnete.
»Guten Morgen, Madame. Möchten Sie immer noch Ihre Mutter besuchen?«
»Ja«, erwiderte Anna. »Sie wohnt …«
Sergei winkte ab, um ihr klar zu machen, dass er genau wusste, wohin er sie zu bringen hatte.
187
Anna lächelte vergnügt, als er sie durch die Innenstadt an einem herrlichen Brunnen vorbeifuhr, der eine Zierde für den Rasen von Versailles gewesen wäre. Aber sobald Sergei die Vororte erreichte, veränderte sich die Farbgebung rasch von bunt zu schwarzweiß. Als ihr Fahrer den vernachlässigten Außenposten Berceni erreicht hatte, wurde Anna klar, dass die neue Regierung noch einen weiten Weg vor sich hatte, wenn sie das Wohlstand-für-alle- Programm , das sie den Wählern nach dem Fall von Ceauceşcu versprochen hatte, durchsetzen wollte.
Anna war binnen weniger Meilen zu der vertrauteren Kulisse ihrer Jugend zurückgekehrt. Sie musste feststellen, dass viele ihrer Landsleute niedergeschlagen wirkten und älter aussahen, als sie in Wirklichkeit waren. Nur die Kleinkinder, die in den Straßen Fußball spielten, schienen sich der schlimmen Verhältnisse, in denen sie lebten, nicht bewusst zu sein. Es entsetzte Anna, wie hartnäckig ihre Mutter darauf bestand, an ihrem Geburtsort auszuharren, obwohl ihr Vater bei dem Aufstand getötet worden war. Anna hatte so oft versucht, sie davon zu überzeugen, zu ihr nach Amerika zu ziehen, aber ihre Mutter ließ nicht mit sich reden.
1987 war Anna von einem Onkel, den sie nie zuvor getroffen hatte, nach Illinois eingeladen worden. Er hatte ihr sogar 200
Dollar Reisegeld geschickt. Ihr Vater hatte ihr nahe gelegt, sie solle gehen, und zwar schnell, aber es war ihre Mutter, die vorausgesagt hatte, dass sie niemals zurückkehren würde. Anna hatte ein Ticket für die Hinreise gekauft und ihr Onkel hatte versprochen, die Rückreise zu bezahlen, wann immer sie heimkehren wollte.
Damals war Anna 17 gewesen und sie hatte sich in Amerika verliebt, noch bevor ihr Schiff anlegte. Einige Wochen später fing Ceauceşcu an, scharf gegen jeden vorzugehen, der es wagte, sich seinem drakonischen Regime entgegenzustellen. Ihr Vater warnte Anna in einem Brief, dass es zu gefährlich wäre, jetzt nach Hause zu kommen.
188
Es war sein letzter Brief gewesen. Drei Wochen später schloss er sich den Aufständischen an und wurde niemals wieder gesehen.
Anna vermisste ihre Mutter ganz schrecklich und flehte sie wiederholt an, zu ihnen nach Illinois zu kommen. Aber die Antwort war immer dieselbe. »Das ist meine Heimat, hier wurde ich geboren und hier werde ich sterben. Ich bin zu alt, um ein neues Leben zu beginnen.« Zu alt?, hatte Anna ihr vorgehalten.
Ihre Mutter war erst 51, aber es waren 51 dickköpfige rumänische Jahre, darum akzeptierte Anna irgendwann widerwillig, dass nichts die Meinung ihrer Mutter ändern würde.
Einen Monat später hatte ihr Onkel George Anna in der örtlichen Schule angemeldet. Während sich die Unruhen in Rumänien unaufhörlich fortsetzten, machte Anna ihren Abschluss am College und nützte später die Chance, an der Penn University zu promovieren – in einer Disziplin, die keine Sprachbarrieren kannte.
Dr. Petrescu schrieb ihrer Mutter jeden Monat, obwohl sie nur zu gut wusste, dass die meisten ihrer Briefe sie nicht erreichten, weil die vereinzelten Antwortschreiben häufig Fragen enthielten, die sie bereits beantwortet hatte.
Nachdem Anna das College abgeschlossen und bei Sotheby’s angefangen hatte, war eine ihrer ersten Aktivitäten, ein eigenes Bankkonto für ihre Mutter in Bukarest zu eröffnen, auf das sie am 1. jeden Monats 400 Dollar überwies. Obwohl sie sehr viel lieber …
»Ich warte hier auf Sie«, unterbrach Sergei ihren Gedankengang, als das Taxi vor einem baufälligen Häuserblock in der Piazza Resitei hielt.
»Dankeschön.« Anna sah sich den Vorkriegsbau an, in dem sie zur Welt gekommen war und in dem ihre Mutter immer noch lebte. Anna fragte sich, wofür ihre Mutter ihr Geld
Weitere Kostenlose Bücher