Die Farbe der Gier
Lebensunterhalt nicht als Künstler verdienen«, meinte sie traurig. »Weißt du, mit seinem Talent hätte Anton ebenfalls nach Amerika gehen sollen.«
Anna sah erneut zu Antons herausragendem Porträt ihres Vaters auf. Ihre Mutter hatte Recht; mit einem solchen Talent hätte er in New York Karriere gemacht. »Was macht er mit dem Geld?«, fragte sie.
»Er kauft Leinwand. Farbe. Pinsel und all die Sachen, die sich seine Schüler nicht leisten können. Du siehst also, deine Großzügigkeit dient einem guten Zweck.« Sie hielt inne. »Anton war deine erste Liebe, Anna, nicht wahr?«
Anna hätte nicht geglaubt, dass ihre Mutter es immer noch fertig brachte, sie erröten zu lassen. »Ja«, gab sie zu. »Und vermutlich war ich auch seine erste Liebe.«
»Er ist jetzt verheiratet und sie haben einen kleinen Sohn namens Peter.« Sie schwieg erneut. »Hast du jemanden?«
»Nein, Mama.«
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»Was bringt dich dann nach Hause? Rennst du vor etwas oder vor jemandem davon?«
»Warum fragst du so was?« Anna klang defensiv.
»In deinen Augen liegt eine Traurigkeit. Und Angst.« Elsa Petrescu sah zu ihrer Tochter auf. »Das hast du schon als Kind nie verbergen können.«
»Ich habe ein oder zwei Probleme«, räumte Anna ein, »aber nichts, was die Zeit nicht lösen würde.« Sie lächelte. »Genauer gesagt glaube ich, dass Anton mir bei einem der Probleme helfen könnte, und ich hoffe, ihn nachher in der Akademie auf einen Drink zu treffen. Soll ich ihm von dir etwas ausrichten?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie war eingeschlafen. Anna legte eine Decke über den Schoß ihrer Mutter und küsste sie auf die Stirn. »Ich komme morgen wieder, Mama«, flüsterte sie.
Lautlos glitt sie aus dem Raum. Als sie das zugemüllte Treppenhaus verließ, freute sie sich, dass der alte, gelbe Mercedes immer noch vor dem Bürgersteig parkte.
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28
ANNA KEHRTE IN IHR HOTEL ZURÜCK, duschte kurz und zog sich um. Dann brachte sie ihr neuer Chauffeur zur Akademie der Schönen Künste an der Piata Universitatii.
Das Gebäude hatte im Lauf der Zeit nichts von seiner Eleganz oder seinem Charme verloren und als Anna die Stufen zu den massiven, mit Reliefs verzierten Türen hochstieg, fluteten die Erinnerungen zurück, wie sie in die großartigen Kunstwerke eingeführt worden war, die sie wohl nie in natura sehen würde.
Anna trat an die Empfangstheke und erkundigte sich, wo Professor Teodorescus Vorlesung stattfand.
»Im großen Hörsaal im dritten Stock«, sagte die junge Frau hinter der Theke. »Aber die Vorlesung hat bereits begonnen.«
Anna dankte der Studentin und stieg, ohne nach dem Weg zu fragen, die breite Marmortreppe in den dritten Stock hinauf. Sie blieb stehen, um sich ein Plakat vor dem Hörsaal durchzulesen: DER EINFLUSS PICASSOS AUF DIE KUNST
DES 20. JAHRHUNDERTS
Professor Anton Teodorescu
HEUTE ABEND, 19 UHR →
Sie brauchte den Pfeil nicht, der ihr die Richtung wies. Anna stieß behutsam die Tür auf und freute sich, dass der Hörsaal im Dunkeln lag. Sie stieg die Stufen am Rand des Hörsaales hoch und setzte sich in eine der hintersten Reihen.
Ein Dia von Guernica füllte die Projektionswand. Anton erklärte gerade, dass die massive Leinwand 1937 gemalt worden war, zur Zeit des spanischen Bürgerkrieges, als Picasso auf dem 194
Zenit seines Könnens stand. Er erklärte, dass Picasso drei Wochen für die Darstellung der Bombenangriffe und des Gemetzels gebraucht hatte und das Bild zweifellos von dem Hass des Künstlers auf den spanischen Diktator Franco beeinflusst worden war. Die Studenten hörten aufmerksam zu, einige machten sich Notizen. Antons bravouröser Vortrag rief Anna in Erinnerung, warum sie vor so vielen Jahren in ihn verliebt gewesen war. Damals hatte sie nicht nur ihre Jungfräulichkeit an einen Künstler verloren, sondern auch eine lebenslange Affäre mit der Kunst begonnen.
Als Antons Präsentation endete, hegte Anna aufgrund des stürmischen Beifalls keinen Zweifel daran, wie sehr den Studenten die Vorlesung gefallen hatte. Er hatte nichts von seiner Fähigkeit verloren, die Begeisterung junger Menschen für ihr Wahlfach zu schüren und sie zu motivieren.
Anna sah zu, wie Anton seine Dia-Bilder einsammelte und sie in eine alte Aktentasche schob. Er war groß und kantig, hatte dunkle Wuschellocken und trug eine uralte, braune Samtjacke.
Das offene Hemd verlieh ihm die Aura des ewigen Studenten.
Ihr fiel allerdings auch auf, dass er ein paar Pfund zugelegt hatte, aber das machte ihn in
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