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Die Farbe der Gier

Die Farbe der Gier

Titel: Die Farbe der Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe der Gier
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ausgegeben hatte. Sie trat auf den mit Unkraut übersäten Weg, den sie einst 189
    für ungeheuer breit gehalten hatte, weil sie nicht darüberspringen konnte.
    Die Kinder, die auf der Straße Fußball spielten, sahen misstrauisch zu, wie die Fremde in ihrem eleganten Leinenjackett, den Jeans mit den modischen Löchern und den schicken Turnschuhen den mit Schlaglöchern übersäten Weg entlangging. Sie trugen auch Jeans mit Löchern. Der Aufzug reagierte nicht, als Anna den Knopf drückte – nichts hatte sich verändert. Das war auch der Grund, wie sich Anna erinnerte, warum die begehrtesten Wohnungen immer in den unteren Stockwerken lagen. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter nicht schon vor Jahren umgezogen war.
    Als Anna schließlich im 16. Stock anlangte, blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Kein Wunder, dass ihre Mutter so selten die Wohnung verließ. Anna zögerte, bevor sie an eine Tür klopfte, die keinen Tropfen Farbe gesehen hatte, seit sie das letzte Mal davor gestanden hatte.
    Sie musste eine Weile warten, bevor eine zerbrechliche, weißhaarige Dame, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Tür öffnete, aber nur wenige Zentimeter. Mutter und Tochter starrten einander an, bis Elsa Petrescu plötzlich die Tür aufriss, ihre Tochter in ihre Arme zog und mit einer Stimme, die so alt klang, wie sie aussah, »Anna, Anna, Anna« rief. Sowohl Mutter als auch Tochter brachen in Tränen aus.
    Die alte Dame klammerte sich an Annas Hand, während sie sie in die Wohnung führte, in der sie zur Welt gekommen war.
    Anna konnte sich immer noch an alles erinnern, weil sich absolut nichts verändert hatte. Das Sofa und die Stühle, die ihre Großmutter ihnen hinterlassen hatte, die Familienfotos, allesamt ungerahmt und in Schwarzweiß, ein Kohlenkasten ohne Kohle, ein Teppich, der so durchgetreten war, dass man das ursprüngliche Muster kaum noch erkennen konnte. Der einzig neue Gegenstand im Raum war ein herrliches Gemälde, das an den ansonsten leeren Wänden hing. Als Anna das Porträt ihres 190
    Vaters bewunderte, wurde sie daran erinnert, wie ihre Liebe zur Kunst entstanden war.
    »Anna, Anna, ich habe so viele Fragen«, sagte ihre Mutter.
    »Wo soll ich anfangen?« Sie klammerte sich immer noch an die Hand ihrer Tochter.
    Die Sonne ging unter, bevor Anna auf alle Fragen ihrer Mutter geantwortet hatte. Sie flehte erneut: »Bitte, Mama, komm mit mir nach Amerika.«
    »Nein«, erwiderte ihre Mutter trotzig. »All meine Freunde und all meine Erinnerungen sind hier. Ich bin zu alt, um ein neues Leben zu beginnen.«
    »Warum ziehst du dann nicht wenigstens in einen anderen Stadtteil? Ich könnte dir eine Wohnung in einem unteren …«
    »Hier habe ich geheiratet«, erwiderte ihre Mutter leise. »Hier bist du geboren, hier habe ich über 30 Jahre mit deinem geliebten Vater gelebt, und wenn Gott beschließt, dass meine Zeit gekommen ist, dann werde ich hier sterben.« Sie lächelte zu ihrer Tochter auf. »Wer soll sich um das Grab deines Vaters kümmern?«, fragte sie, als ob sie diese Frage nie zuvor gestellt hatte. Sie sah ihrer Tochter in die Augen. »Weiß du, es hat ihn so gefreut, dass du nach Amerika zu seinem Bruder gegangen bist.« Sie schwieg. »Und jetzt weiß ich, dass er Recht hatte.«
    Anna sah sich im Zimmer um. »Aber warum hast du nicht einen Teil des Geldes, das ich dir jeden Monat geschickt habe, ausgegeben?«
    »Das habe ich doch«, erklärte ihre Mutter fest. »Allerdings nicht für mich«, räumte sie ein, »ich brauche doch nichts.«
    »Wofür hast du es dann ausgegeben?«, wollte Anna wissen.
    »Anton.«
    »Anton?«, wiederholte Anna.
    »Ja, Anton«, sagte ihre Mutter. »Du weißt, dass er aus dem Gefängnis entlassen wurde?«
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    »Oh ja«, sagte Anna. »Er hat mir geschrieben, gleich nachdem Ceauceşcu verhaftet wurde. Er wollte wissen, ob ich ein Foto von Papa habe, das er sich ausleihen könnte.« Anna lächelte, als sie zu dem Gemälde ihres Vaters aufsah.
    »Es sieht ihm sehr ähnlich«, sagte ihre Mutter.
    »Das stimmt«, bestätigte Anna.
    »Sie haben ihm seine alte Stelle in der Akademie
    zurückgegeben. Wenn du ihn geheiratet hättest, wärst du jetzt die Frau eines Professors.«
    »Malt er immer noch?«, fragte Anna und vermied damit die nächste, unvermeidliche Frage ihrer Mutter.
    »Ja«, sagte Elsa Petrescu, »aber seine größte Verantwortung liegt jetzt darin, die Studenten an der Universitate de Arte zu unterrichten. In Rumänien kann man seinen

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