Die Farbe der Gier
Gemälden, sondern von Mätressen. Nach einem intensiven Wochenende in Paris – hauptsächlich auf der Rennbahn von Longchamp und später in einem Schlafzimmer im Crillon – überzeugte ihn seine damalige Gespielin, ihrem Arzt ein Gemälde von einem unbekannten Künstler abzukaufen.
Charlie Wentworth kehrte nach England zurück, nachdem er die Geliebte abgelegt hatte, aber das Gemälde war ihm geblieben.
Er verbannte es in ein Gästezimmer, obwohl mittlerweile viele Kunstliebhaber das Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr zu van Goghs besten Arbeiten zählen.
Anna hatte Fenston bereits gewarnt, vorsichtig zu sein, wenn es darum ging, einen van Gogh zu erstehen, denn die Zuschreibungen waren häufig dubioser als Wall Street Banker –
ein Vergleich, den Fenston so gar nicht schätzte. Sie erklärte ihm, dass in privaten Sammlungen mehrere Fälschungen hingen, selbst in ein oder zwei großen Museen, einschließlich dem Nationalmuseum von Oslo. Aber nachdem Anna die Papiere geprüft hatte, die zum Selbstporträt von Vincent van Gogh gehörten und unter denen sich ein Brief von Dr. Gachet befand, in dem er Charles Wentworth namentlich nannte, dazu eine Quittung über 800 Francs aus dem Originalverkauf und ein Echtheitszertifikat, ausgestellt von Madame Telleband vom Van Gogh Museum in Amsterdam, war sie sich sicher genug, um dem Vorsitzenden zu bestätigen, dass dieses herrliche Porträt tatsächlich aus der Hand des Meisters stammte.
Für Van-Gogh-Süchtige stellte das Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr den ultimativen Kick dar. Obwohl der Meister in seinem Leben 35 Selbstporträts gemalt hatte, 23
versuchte er sich nur noch zwei Mal daran, nachdem er sich nach einem Streit mit seinem Freund Paul Gauguin das linke Ohr abgetrennt hatte.
Was gerade dieses Werk für alle ernsthaften Sammler so heraushob, war der Umstand, dass das andere in einem Nationalmuseum hing. Anna machte sich immer größere Sorgen, wie weit Fenston zu gehen bereit war, um dieses zweite Selbstporträt in seinen Besitz zu bringen.
Anna verbrachte zehn angenehme Tage in Wentworth Hall, wo sie die Sammlung der Familie katalogisierte und schätzte.
Als sie nach New York zurückkehrte, erklärte Anna dem Vorstand – der in erster Linie aus Fenstons Busenfreunden bestand beziehungsweise aus Politikern, die nur allzu freudig milde Gaben annahmen –, dass der Wert des Darlehens in Höhe von 40 Millionen Dollar mehr als abgedeckt wäre, falls jemals ein Verkauf nötig werden sollte.
Obwohl Anna sich nicht dafür interessierte, warum Lady Wentworth eine derart hohe Summe benötigte, hörte sie Victoria während ihres Aufenthaltes in Wentworth Hall häufig von ihrer Trauer über den ›vorzeitigen Tod unseres lieben Papas‹
sprechen, von der Pensionierung ihres altvertrauten Vermögensverwalters und der schreienden Ungerechtigkeit von 40 Prozent Erbschaftssteuer. »Wenn nur Arabella einige Augenblicke früher zur Welt gekommen wäre …«, lautete eines der Lieblings-Mantras von Victoria.
Anna erinnerte sich später an jedes Gemälde und jede Skulptur in Victorias Sammlung, ohne in ihren Papieren nachsehen zu müssen. Die besondere Gabe, die sie von ihren Kommilitonen an der Penn und ihren Kollegen bei Sotheby’s abhob, war ihr photographisches Gedächtnis. Sobald Anna ein Gemälde gesehen hatte, vergaß sie weder das Bild noch seine Herkunft oder den Ort seiner Hängung. Jeden Sonntag stellte sie ihr Talent auf die Probe, indem sie eine neue Galerie besuchte, einen anderen Raum im Met oder einfach den neuesten Katalog 24
studierte. Sobald sie in ihre Wohnung zurückkehrte, schrieb sie den Namen jedes Gemäldes auf, das sie gesehen hatte, bevor sie es in den diversen Katalogen verifizierte. Seit Anna die Universität verlassen hatte, waren der Louvre, der Prado und die Uffizien ihrem Gedächtnisspeicher hinzugefügt worden, ebenso die Nationalgalerie in Washington sowie das Phillips Museum und das Getty Museum. 37 private Sammlungen und zahllose Kataloge waren ebenfalls in der Datenbank ihres Gehirns gespeichert. Ein Schatz, für den Fenston nur zu gern mehr als das Übliche zahlte.
Annas Aufgaben reichten nicht weiter, als die Sammlungen potenzieller Bankkunden zu schätzen und anschließend dem Vorstand einen schriftlichen Bericht einzureichen. Sie wurde niemals in Vertragsverhandlungen einbezogen. Das oblag ausschließlich dem hauseigenen Anwalt der Bank, Karl Leapman. Allerdings hatte Victoria einmal erwähnt, dass die Bank ihr den
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