Die Farbe der Gier
Er konnte nicht vergessen, dass dies derselbe Mann war, der ihm 20 Dollar abgeluchst hatte – eine Summe, die nicht auf seiner Spesenabrechnung auftauchen würde. Er dachte über die Tatsache nach, dass er und der Fahrer die ganze Nacht wach geblieben waren, während sie geschlafen hatte. Jack fürchtete, wenn er einschlief, und sei es auch nur für einen Augenblick, könnte die Kurzhaarige sich anschleichen und die Kiste stehlen, obwohl er die Frau nicht mehr gesehen hatte, seit sie in die Maschine nach London eingestiegen war. Er fragte sich, wo sie jetzt sein mochte. Nicht weit weg, wie er vermutete. Mit jeder Stunde, die verstrich, wurde Jack klarer, dass er es nicht einfach mit einem Taxifahrer zu tun hatte, sondern mit jemandem, der sein Leben für diese Frau aufs Spiel setzen würde, vielleicht sogar ohne die Bedeutung des Inhalts der Kiste zu kennen. Es musste dafür einen Grund geben.
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Jack wusste, es wäre Zeitverschwendung, den Taxifahrer zu bestechen, wie er auf eigene Rechnung bereits herausgefunden hatte, aber der Frachtchef hatte ihn in sein Privatbüro gewunken und ihm sogar die relevante Seite der Frachtpapiere ausgedruckt.
Die Kiste war für den nächsten Flug nach London gebucht.
Bereits an Bord, wie der Frachtchef versichert hatte. Keine schlechte Investition für 50 Dollar, auch wenn er die Unterschrift nicht hatte entziffern können. Aber würde sie dieselbe Maschine nehmen? Jack wusste es einfach nicht. Wenn der van Gogh in der roten Kiste auf dem Heimweg nach London war, was war dann in der Kiste, die Petrescu nach Japan mitgenommen und in Nakamuras Büro abgeliefert hatte? Er hatte keine andere Wahl als abzuwarten, ob sie dieselbe Maschine bestieg.
Sergei sah zu, wie Anna auf den Flughafeneingang zuging, ihren Koffer hinter sich herziehend. Er würde Anton später anrufen, um ihn wissen zu lassen, dass er sie sicher abgeliefert hatte. Anna drehte sich um und winkte, darum fiel ihm nicht auf, wie ein Fahrgast auf den Rücksitz stieg, bis er hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde. Er sah in seinen Rückspiegel.
»Wohin, Madame?«, fragte er.
»Zum alten Flughafen«, sagte sie.
»Ich wusste gar nicht, dass der noch in Betrieb ist«, meinte er, aber sie antwortete nicht. Manche Fahrgäste taten das nicht.
Nach der zweiten Verkehrsinsel nahm Sergei die nächste Abfahrt. Er sah wieder in den Rückspiegel. Irgendetwas an ihr kam ihm vertraut vor – hatte sie schon früher einmal auf seinem Rücksitz gesessen? An der Kreuzung bog Sergei nach links auf die alte Flughafenstraße. Sie lag verlassen. Seit Ceauceşcu im November 1989 zu fliehen versucht hatte, war von hier in der Tat nichts mehr abgeflogen. Er sah noch einmal in den Spiegel, während er versuchte, eine gleichmäßige Geschwindigkeit beizubehalten, als ihm plötzlich alles wieder einfiel. Er wusste 288
genau, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Die Haare waren länger gewesen und blond, aber obwohl es über ein Jahrzehnt zurücklag, hatten sich ihre Augen nicht verändert – Augen, die keinerlei Ausdruck zeigten, wenn sie tötete, Augen, die sich in einen hineinbohrten, wenn man starb.
Seine Einheit war an der Grenze zu Bulgarien umzingelt worden. Rasch wurden sie zusammengetrieben und zum nächsten Gefangenenlager gebracht. Er hörte immer noch die Schreie seiner jungen Freiwilligen, von denen einige noch bis vor kurzem die Schulbank gedrückt hatten. Und sobald sie ihr alles gesagt hatten, was sie wussten – oder dass sie eben gar nichts wussten –, schnitt sie ihnen die Kehlen durch, wobei sie ihnen in die Augen starrte. Sobald sie sicher war, dass sie tot waren, hackte sie ihnen mit einer weiteren raschen Bewegung ihres Messers den Kopf ab und warf diesen dann mitten in die überfüllte Zelle. Selbst die abgebrühtesten ihrer Helfershelfer wandten dabei ihre Augen ab.
Bevor sie ging, pflegte sie sich immer unter jenen umzusehen, die bis dahin überlebt hatten. Jeden Abend sprach sie dieselben Worte zum Abschied: »Ich habe mich noch nicht entschieden, wer von euch der Nächste sein wird.«
Drei seiner Männer hatten überlebt und das nur, weil neue Gefangene mit neueren Informationen aufgegriffen worden waren. Aber 37 schlaflose Nächte konnte sich Oberst Sergei Slatinaru nur fragen, wann er wohl an der Reihe sein würde. Ihr letztes Opfer war Annas Vater gewesen, einer der tapfersten Männer, die er jemals kennen gelernt hatte, der einen besseren Tod verdient hatte als durch die Hände einer Metzgerin abgestochen zu
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