Die Farbe Der Leere
Mendrinos keine Gelegenheit geben, ihr zu sagen: »Ich habe Sie gewarnt.«
Wie auch immer, sie wusste, wie sie am besten funktionierte. Ihre klarsten Einsichten hatten sich immer ergeben, wenn sie einen Schritt zurücktrat und das Bild sich selbst fokussieren ließ. Die Metapher mit dem Bild war besonders passend, weil ihre besten Ideen so oft aus visueller Stimulation hervorgingen. Manchmal, wenn sie sich klar zu werden versuchte, wie sie einen Fall am besten anging, heftete sie etwas an die Wand, zum Beispiel die Krankenhausbilder, und setzte sich einfach davor, bis sich irgendein Rädchen in ihrem Kopf drehte und ihr ein vollständiger Plan einfiel wie das Geschenk eines großzügigen Gottes.
Sie parkte hinter einem grünweißen Lieferwagen, nicht direkt vor dem Heim, sondern ein Stück die Straße hoch in Richtung der Bushaltestelle. Hier gab es ein paar kleine Geschäfte, einen Pizzaladen und ein winziges Chinarestaurant mit einer Luke für Außerhausverkauf. Sie stellte die Zündung ab. Eine Weile saß sie da und ließ ihren Geist leer werden, um Raum für visuelle Eindrücke zu schaffen. Manchmal funktionierte das, manchmal tauchte aus der scheinbaren Leere etwas auf. Manchmal war es genau das, was sie brauchte, und manchmal nicht.
Die drei toten Jungen hatten alle in diesem Gebäude gewohnt. Alle drei waren diese Treppen hoch- und runtergestiegen und auf diesem Bürgersteig gegangen. Was hatte sie als Opfer markiert? Wie hatte das Raubtier sie ausgewählt? Vielleicht war er genau hier gewesen. Hier, wo sie parkte, und hatte die Jungs beobachtet, sie verfolgt, ihren Mord geplant. Sie stieg aus dem Auto und machte ein paar Schnappschüsse von der Vorderseite des Hauses und der Straße. Dann stieg sie wieder ein und legte die Kamera weg.
Ein Dutzend halbwüchsige Jungs, missbraucht oder auf die schiefe Bahn geraten oder vernachlässigt, zusammengepfercht an einem Ort, der niemals wirklich ein Zuhause sein konnte. Wenn Kafka in einem Jugendheim gelebt hätte, hätte er sich gar nichts ausdenken müssen, dachte sie. Seine Memoiren hätten gereicht.
Sie fragte sich, wie es wohl war, Kriminalermittler zu sein. Vielleicht wäre sie ein guter geworden. Sie war auf ihre Weise undercover, total unauffällig, die nicht zu beschreibende Person, die auf der Straße niemand je bemerkte. Eine Handvoll Jungs kam aus der Vordertür und sprang die Treppe hinunter. Sie schlenderten den Gehweg entlang und kamen an ihrem Auto vorbei. Sie beobachtete, wie sie die Straße runtergingen. Keiner von ihnen nahm sie wahr, so vertieft waren sie in ihre Spielchen und ihr Geschrei.
Für ein paar dieser Jungs würde vielleicht noch alles in Ordnung kommen. Womöglich waren sie eines Tages besser dran, als sie selbst es nach landläufigen Maßstäben war. Vielleicht würden sie heiraten, Kinder haben, Teil einer Gemeinschaft sein. All diese grundlegenden menschlichen Umtriebe. Natürlich wusste sie auch, dass manche von ihnen schon jetzt keine Chance mehr hatten.
Sie hatte über zehn Jahre mit ihrem Mann im selben Bett geschlafen, und sie hatten sich am Ende dieser Zeit weniger verstanden als am Anfang. Wie konnte sie annehmen, das Leben dieser Jungs zu verstehen? Sie hatte ihr Berufsleben damit verbracht, Richter zu überzeugen, dass die im jeweiligen Fall von ihr beantragte Lösung im Interesse des fraglichen Kindes die bestmögliche war. Welche Anmaßung von ihr, zu denken, sie wüsste, was in irgendjemandes Interesse die bestmögliche Lösung war!
Es wurde kalt. Sie sollte lieber verschwinden, bevor sie jemandem auffiel und sich fragen lassen musste, was sie hier trieb. Noch einmal nahm sie die Kamera und stieg aus, um ein paar letzte Bilder zu machen. Als sie fast fertig war, kam ein Junge allein aus der Tür. Er überquerte den Gehweg und hielt direkt auf ihr Auto zu.
Er war dünn und klein und ging mit einem merkwürdigen leichten Hinken auf den Zehen. Er sah zu jung aus, um ein Bewohner zu sein, das Haus nahm nur Teenager auf. Er kam ihr außerdem bekannt vor.
Sie glitt auf den Fahrersitz, schlug die Tür zu und verriegelte beide Türen.
»Lady, ich will mit Ihnen reden!«, rief der Junge.
Sie ließ das Fenster einen Spalt herunter, und dann erinnerte sie sich. Der Junge war Jose. Sie hatte ihn erst vor ein paar Tagen als kindlichen Zeugen verhört.
»Ich hab Sie hier schon gesehen. Sie sind früher öfter gekommen, um Jonnie abzuholen. Aber als ich letzte Woche in Ihrem Büro war, haben Sie mich gar nicht erkannt,
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