Die Farbe Der Leere
stimmt's?«
Nein, hatte sie nicht. Sie hatte die anderen Jungs nie wirklich gesehen, wenn sie Jonathan abholte. So, wie sie den angeklagten Eltern vor Gericht niemals in die Augen sah, oder den Kindern, wenn es nicht absolut notwendig erschien. Bei all ihrem schwarzen Humor und ihrer endlos scheinenden Fähigkeit, die grauenhaftesten Fälle zu bearbeiten, gab es am Ende doch eine Grenze dafür, wie viel Schmerz ein einzelner Mensch verkraften konnte. Ihnen in die Augen zu sehen ging einfach zu weit. Jonathan war die Ausnahme gewesen, die bewiesen hatte, dass sie besser bei ihren Regeln geblieben wäre.
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich will mit Ihnen reden.«
»Okay, worüber willst du reden?«
»Ich hab Sachen über Jonnie zu erzählen.«
»Hast du mit der Polizei gesprochen?«
»Ich red' nicht mit Bullen. Ich will mit Ihnen reden.«
»Okay, was hältst du von einer Pizza, oder chinesisch?«
»Pizza«, sagte er schnell, als könnte das Angebot zurückgezogen werden, wenn er nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte.
»Gut, der Chinese sieht mir auch nicht ganz geheuer aus.«
»Da müssen Sie aufpassen. Die kochen die Ratten aus der Straße. Und Katzen auch.«
»Wo hast du denn das gehört?«
Er zuckte mit exquisiter Überheblichkeit die Schultern. »Das weiß hier jeder.«
Katherine ließ sich in einer stickigen Nische nieder und schickte Jose mit einer Fünfdollarnote an den Tresen. Er kehrte mit einem triefenden Pappteller zurück, über den ein fettiges Pizzastück quoll. Er überreichte ihr das Wechselgeld, bevor er auf die Bank ihr gegenüber rutschte.
Durch die Frontscheibe konnte sie die Jungen beobachten, die vorhin aus dem Jugendheim gekommen waren. Sie hingen an der nächsten Straßenecke rum, und zwar einige im wahrsten Sinne des Wortes: Sie sprangen an der Ampel hoch, hielten sich fest und traten in die Luft. Währenddessen schubsten sich die am Boden gegenseitig und schlugen einander auf die Köpfe. Unerklärlicherweise schienen sie diesen Zeitvertreib zu genießen. Jonathan musste diesen Jungs ein völliges Rätsel gewesen sein. Was sollten sie auch mit einem Jungen anfangen, der sich mittelalterliches Englisch beibrachte, damit er Beowulf im Original lesen konnte?
Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, saß er intensiv in ein Buch vertieft auf einer Bank im Wartebereich des Familiengerichts. Er schien wahrnehmungslos für das Chaos um ihn herum. Der Raum war überfüllt, Kinder schrien und Anwälte diskutierten durcheinander, aber Jonathan steckte ganz in seiner eigenen Welt.
Unbeeindruckt von den Öllachen in den Mulden der gummiartigen Käseoberfläche vernichtete Jose das riesige Pizzastück auf höchst effiziente Art. Katherine reichte ihm eine Handvoll Papierservietten aus dem Metallspender auf dem Tisch.
Als der letzte Bissen Pizza in ihm verschwunden war, fragte sie: »Was wolltest du mir also erzählen?«
»Was wollen Sie?« Sein Gesicht war ausdruckslos.
War das Ganze bloß ein Trick gewesen, damit sie ihm ein Stück Pizza kaufte?
»War bloß 'n Witz.« Er lachte. »Wie ich gesagt hab, ich hab Sachen über Jonnie zu erzählen.«
»Wie ich schon fragte, warum erzählst du das nicht der Polizei?«
Er schnaubte. »Wissen Sie, 'n Bulle kam mal rauf in unsere Wohnung, als ich noch bei meinen Leuten gelebt hab. Er hatte meine Mutter irgendwie in der Hand. Bevor Sie fragen, sag ich's lieber gleich: Hab keinen Schimmer, womit, und war auch schlau genug, nicht zu fragen. Sie hat ihn ins Schlafzimmer geführt und ihm einen geblasen. Ich im Wohnzimmer, gleich daneben, mit den Kleinen. Die hatten Angst. Nicht weil Ma 'nen Kerl mit ins Schlafzimmer nahm, sondern weil 'n Bulle im Haus war, und meim Onkel sein Crack lag überall rum.«
»Und, was ist passiert?«
Er zuckte die Achseln. »Sie kommen aus dem Zimmer, und er winkt mir grinsend zu, so ›bin ich nich 'n geiler Typ?‹, dann ist er abgehauen und nie wiedergekommen. Ich nehm an, er hatte was gegen sie in der Hand und hat sie gezwungen, das für ihn zu tun, damit er sie in Ruhe lässt. Oder vielleicht hat sie's auch für einen meiner Onkels gemacht. Wer weiß.«
»Wenn die Tür zu war, woher hast du gewusst … was sie da drin gemacht haben?«
»Ich hab's Ihnen schon neulich in Ihrem Büro gesagt, manche Dinge weiß man einfach.«
Eine Weile saßen sie schweigend da.
»Weißt du«, sagte Katherine, »ich habe mich gefragt, ob du später vielleicht noch ein Stück Pizza möchtest.« Sie war sich für eine kleine
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