Die Farbe Der Leere
zu hinterlassen, wieder aufgelegt hatte. Wahrscheinlich war er es gewesen. Mit Sicherheit war er kein Typ, der gern mit Maschinen sprach.
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Er war herumgefahren, und er hatte Pläne gemacht. Beobachten und fahren und planen. Und er hatte zwei wichtige Dinge herausgefunden. Das eine war, dass das Haus von den Bullen bewacht wurde. Als er heute vorbeigefahren war, hatte er sie schon aus mehreren Blocks Entfernung gesehen. Dachten sie, er könnte sie in Zivil nicht erkennen?
Und am Tag zuvor war sie da gewesen. Es war so einfach. Er musste sie jetzt nicht mal mehr besuchen. Sie war zu ihm gekommen. Sie hatte direkt hinter ihm geparkt. Er hatte fast lachen müssen. Und dann war auch noch der Junge aus dem Haus gekommen und hatte mit ihr geredet. Beide auf einmal.
Sie mit dem Jungen zu sehen erinnerte ihn an alles, woran er sich nicht erinnern wollte.
Sie hatte kein Recht gehabt, zu tun, was sie getan hatte. Sie hatte ihm alles genommen. Und jetzt tat er alles, was er tat, ihretwegen.
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Sie wählte die Nummer, die Jose ihr gegeben hatte, und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht. Eine sanftstimmige junge Frau rief sie binnen einer Stunde zurück. Katherine tat ihr Bestes, um ihr Anliegen zu erklären. Das war nicht leicht, da sie gar nicht sicher war, worin genau es eigentlich bestand. Die Stimme der Frau war freundlich. »Da möchten Sie sicher mit Sensei reden.«
Katherine konnte hören, dass das eher ein Titel als ein Name war.
»Ich frage sie nach einem Termin und rufe Sie dann zurück.«
Innerhalb von Minuten rief die Frau wieder an und gab Katherine eine Zeit und eine Adresse durch.
Jonathan hatte versucht, mit ihr über Leere zu sprechen.
Sie kannte sich mit Schmerz aus, sie kannte sich mit Beschädigung aus. Sie wusste, dass Jonathan damit so gut wie möglich klarkommen musste. An dem Tag, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie den gutaussehenden Jungen bemerkt, weil sie mehrfach an der Bank vorbeigehetzt war, auf der er saß und las. Aber sein Fall wurde bis fünf nicht aufgerufen, und sie hatte den ganzen Tag über keine Zeit gehabt, herauszufinden, was er da machte.
Im Gerichtssaal wurden dann die Fakten heruntergeleiert. Seine Mutter hatte ihn und seinen Vater verlassen, als er noch ein Baby war. Sie war in der Crackszene verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Er hatte mit seinem Vater, der Schulhausmeister war, in einem rattenverseuchten Apartment gelebt und sprach immer noch respektvoll von dem Mann. Sein Vater war an Aids gestorben, als Jonathan zwölf war. Der einzige Verwandte, den er kannte, war der Bruder seines Vaters. Der Mann hatte widerstrebend eingewilligt, seinen verwaisten Neffen aufzunehmen, aber er hatte das nicht mit seiner Frau besprochen. Sie ließ ihren Groll darüber voll an dem Jungen aus, und Jonathans Onkel wagte nicht, dagegen vorzugehen.
Ein Nachbar hatte gemeldet, dass die Tante den Jungen schlug und hungern ließ. Sie erschien vor Gericht, um die Anschuldigung von sich zu weisen, und machte absolut kein Hehl daraus, dass sie den Jungen mit Wonne jedem überlassen würde, der ihn nehmen wollte, und zwar lieber heute als morgen. Der Fall war kurz und schmerzlos. Die Anklage gegen die Tante fallen lassen, den Jungen in die Obhut von ACS überführen.
Doch das Gerichtsgebäude war fast leer, als der Fall abgeschlossen war. Der für Jonathan zuständige Fallbetreuer war gar nicht erst aufgetaucht.
Katherine konnte schlecht nach Hause gehen und das Kind allein dort sitzen lassen. Der Kindernotdienst erklärte, sie könnten erst in ein paar Stunden jemanden vorbeischicken, der ihn abholte. Es war eine arbeitsreiche Nacht in der Stadt. Babys waren aus dem Fenster geworfen, Kinder im Central Park ausgesetzt worden, und im Lincoln Hospital wurden mehrere Fälle sexuellen Missbrauchs eingeliefert. Es war im Augenblick einfach niemand verfügbar.
Sie hatte ihn bei McDonalds auf der anderen Straßenseite zum Abendessen eingeladen. Als der Notdienst eintraf, um ihn abzuholen, hatte sie bereits einen Plan geschmiedet, wie sie ihm helfen konnte. Sie hatte ihm versprochen, sich als seine Mentorin zu verpflichten.
Jonathan mit all seinen Talenten hatte eine Chance, zu überwinden, was ihm bisher widerfahren war, darüber hinauszuwachsen. Und sie hatte den verzweifelten Wunsch, ihm das klarzumachen.
Jonathan hatte nochmals versucht, es ihr zu erklären. »Leere ist voller Möglichkeiten«, sagte er. »Oder vielleicht nenne ich es besser
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