Die Farbe der Liebe
Madame Denoux oder die Frau in dem grauen Kostüm um einen großen Spiegel zu bitten, wenn eine von ihnen das nächste Mal käme, um ihren Ausbildungsstand zu überprüfen. Doch das war gar nicht nötig. Als hätte jemand von fern ihren Gedanken erraten, stand am nächsten Morgen ein bodenlanger Spiegel neben ihrem Futon.
Das ist also meine Ausbildung, sinnierte sie, als sie zusah, wie P. J. sich rasierte, was er zweimal täglich tat, damit er immer schön glatt für sie war. Aber stimmte das, befand sie sich wirklich noch in der Ausbildung? Oder war ihr Leben zu einer endlosen Abfolge von Ficks geworden, und vergeudete sie ihre Tage in einem gläsernen Gefängnis in einem japanischen Garten?
NEUSEELAND 1964
Moana hatte schon immer eine besondere Beziehung zum Meer gehabt.
Wenn man so wollte, war es das Einzige, das ihre Familie ihr hinterlassen hatte. Denn ihre Eltern waren im Winter 1946 von England nach Neuseeland ausgewandert, und obwohl Moana damals noch nicht geboren war, sagte man später, ihre Liebe zum Meer rühre von den sechs Wochen auf der Rangitata , die ihre Mutter, mit Moana schwanger, meist an Deck verbracht hatte. Geplagt von Morgenübelkeit und dem schweren Seegang, musste sie sich während der langen Reise oft über die Reling beugen, um sich zu übergeben. Moanas Vater war unterwegs im Alkoholrausch über Bord gegangen und ertrunken.
Als das Schiff dann in Auckland angelegt hatte, war ihre Mutter dort geblieben. Die Witwe erklärte, nach dieser langen Überfahrt sei sie nicht bereit, irgendwohin weiterzureisen. Moana kam acht Monate später zur Welt, und obwohl kein Tropfen Maoriblut in ihren Adern floss, benannte man sie nach dem Ozean und steckte sie, sobald sie alt genug war, in ein katholisches Internat. Ihre Mutter besuchte sie einmal in der Woche. Doch wann immer sie sich gegenüberstanden, sah Moana nur die Frau, die sie im Stich gelassen, und ihre Mutter sah die schwere See, die ihren Ehemann mit sich fortgerissen hatte.
Vom Ball hörte sie zum ersten Mal durch Iris.
Iris hatte sie im Alter von sieben Jahren noch in der Grundschule bei der heiligen Kommunion kennengelernt. Moana hatte gerade den Mund aufgemacht und vom Priester die trockene Oblate empfangen, als ihr Blick durch ihren weißen Schleier auf Iris fiel, die mit den Fingern im Weihwasser spielte, ehe sie von einer Betreuerin weggezerrt wurde. Als die Mädchen des Internats sich dann in einer ordentlichen Reihe aufgestellt hatten und darauf warteten, wieder hinter die Klostermauern gebracht zu werden, hatte Moana sich fortgestohlen und war dem Mädchen hinterhergerannt, das es gewagt hatte, das heilige Wasser zu verunreinigen. Moana hatte es gerade noch geschafft, nach ihrer Hand zu greifen, dann kam eine Erwachsene und zerrte auch sie weg. Bei der kurzen Berührung hatte das Wasser Moanas Haut benetzt. Und Moana hatte lange Zeit sorgsam den Arm ausgestreckt, damit sie die kostbaren Tropfen nicht versehentlich an der Kleidung abwischte. Sie hatte allerdings nicht verhindern können, dass selbst Weihwasser trocknete.
In der darauffolgenden Woche lernten sie sich richtig kennen, und von da an freute sich Moana auf die Sonntage. Ihren Betreuerinnen machte sie weis, dass sie, die nun wirklich nicht als fromm galt, endlich ihren Weg zu Gott gefunden habe.
Moana hatte zwar nicht zu Gott gefunden, aber in Iris eine Freundin. Sie stahlen sich ihre Augenblicke der Zweisamkeit zwischen zwei Chorälen oder im Schutz dunkler Nischen, wenn man sie eigentlich bei der Beichte vermutete.
Im Alter von siebzehn kam Moana als Pflegekind in Iris’ Familie. Ihre Mutter war unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben und hatte der Tochter nicht einmal genügend finanzielle Mittel für die Schulgebühren hinterlassen.
An den Wochenenden brachte man die beiden Mädchen zu Iris’ Oma Joan nach Piha, damit sie dort Musikstunden nehmen und der alten Dame Gesellschaft leisten konnten. Iris’ Vater fuhr einen neuen Plymouth Vailiant mit der unverwechselbaren chromblitzenden Stoßstange, und solange sie Empfang hatten, hörten sie im krächzenden Autoradio die Songs von Ray Columbus and the Invaders. Die cremefarbenen Leder sitze waren kühl unter Moanas Oberschenkeln, sie hielt sich an Iris’ Hand fest und kämpfte mit ihrer aufsteigenden Übelkeit. Denn während das Auto die scharfen Kurven der von hohen Bäumen gesäumten Landstraße immer schneller nahm, wurden sie von einer Seite zur anderen geschleudert. Schließlich erreichten sie den
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