Die Farbe der Liebe
Strand, dessen Sand schwärzer als die Nacht und im Sonnenschein so glühend heiß war, dass man ihn barfuß kaum betreten konnte, ohne sich die Fußsohlen zu verbrennen.
Iris’ Vater verbrachte den Nachmittag mit den Jungs vom Surfklub bei einem kühlen Bier, während Moana und Iris Joan mit Fragen nach ihrer Jugend löcherten.
Iris’ Großmutter war früher Artistin in Londons Varietétheatern gewesen, und es ging das Gerücht, dass sie damals Feuer schluckte und aufregende erotische Akrobatiknummern beherrschte.
Gebannt hörten die Mädchen zu, wenn sie davon erzählte, wie lasterhaft es im Innern der Mietdroschken zugegangen war, wenn sie sich als Zweiundzwanzigjährige von zahlungskräftigen Herren aus dem Publikum zu solchen Fahrten hatte einladen lassen.
Sie könne noch immer das Bein über den Kopf heben, erklärte sie ihnen eines Tages, und um es zu beweisen, setzte sie sich behände auf den Klavierhocker, schlang den schlanken, faltigen Arm um die linke Wade und schob das Bein über die rechte Schulter, als hätte sie in ihren Hüften ein gut geschmiertes Scharnier.
Am liebsten aber lauschten die Mädchen den Geschichten über den Ball, ein außergewöhnliches Fest, das einmal im Jahr und jedes Mal woanders auf der Welt ausgerichtet wurde. Sie sei dafür einstmals als Künstlerin engagiert worden, erzählte Joan, und zwar von einer großen, gut aussehenden Frau, die im Halbdunkel vor dem Bühnenausgang der Trocadero Music Hall am Piccadilly Circus auf sie gewartet habe. Ihr Haar sei so lang gewesen, dass es bis hinunter zu ihren Knöcheln reichte, und so feuerrot, als würde es brennen. Um sich Joans Verschwiegenheit zu sichern und sie lebenslang für diesen einen Abend im Jahr zu buchen, habe sie ihr im Voraus eine enorme Summe gezahlt. Von da an sei sie mit dem Ball um die Welt gezogen.
Iris nahm ihr die Geschichte nicht ab, doch Moana lauschte der alten Dame andächtig, als sie von einem Fest auf einem Flussdampfer in New Orleans erzählte, auf dem die Wände in Flammen standen, ohne dass sie niederbrannten. Bei einem anderen Ball auf Long Island habe man die Villa dem Anschein nach unter Wasser gesetzt, und die Gäste seien als Meerjungfrauen oder tropische Fische verkleidet von einem Raum zum anderen geschwommen. Und in einer hinter einem Wasserfall verborgenen Tropfsteinhöhle in Norwegen sei eine Gruppe von Tänzerinnen in hautengen, von Kopf bis Fuß mit Diamanten besetzten Kostümen aufgetreten, sodass sie wie Schneeflocken geglitzert hätten, als sie anmutig von der Decke mit den schimmernden Stalaktiten herabgelassen wurden.
Joan hatte nie geheiratet, sich aber vom Tross des Balls losgesagt, nachdem sie von einem Unbekannten – bei einer Gartenparty unter einem Rosenbusch – schwanger geworden war. Als umherreisende Künstlerin konnte man schwerlich ein Kind aufziehen. Mit Iris’ Mutter im Bauch beschloss Joan, sich den Pionieren anzuschließen und nach Down Under auszuwandern. Sie schlug ihre Zelte in Neuseeland auf und bekam dort ihre Tochter, die aus unerklärlichen Gründen sich in jeder Hinsicht ausgesprochen konservativ entwickelte, trotz der Gene ihrer Mutter, die sie wiederum an ihre Tochter Iris weitergegeben hatte.
Joan war mit verschiedenen Künstlern des Balls in Kontakt geblieben, die weiterhin durch die Welt reisten und ihre Auftritte absolvierten. Dadurch erfuhr sie kurz vor Moanas achtzehntem Geburtstag, dass der Ball demnächst nach Neuseeland kommen werde.
»Was meinst du, ist das Ganze wahr«, fragte Iris Moana an diesem Abend.
»Ich glaube ihr jedes Wort.« Moanas Augen funkelten, wenn sie daran dachte.
Die Einladung, die dann kam, war in Goldlettern auf festes weißes Büttenpapier gedruckt und der Umschlag mit einem dicken Tropfen Wachs versiegelt. Joan bat Moana, ihn zu öffnen, weil ihre arthritischen Hände angeblich mit dem schweren Umschlag nicht zurechtkämen. Dabei waren ihre Finger am Morgen noch so flink über die Tasten des Klaviers gehuscht, dass sie es mit jeder Jüngeren hätte aufnehmen können.
Moana fuhr mit dem Fingernagel unter das Siegel, brach es und betrachtete es dann genauer. Es war weich und biegsam und roch nach Marshmallows.
»Cape Reinga«, stieß sie ehrfürchtig hervor, als sie die Karte herauszog und den Text der Einladung vorlas. Sie betonte die beiden Wörter, als beschrieben sie etwas Heiliges, denn sie hatte diesen Ort, den man für den nördlichsten auf der Nordinsel hielt, schon immer einmal besuchen wollen. Die Maori
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