Die Farbe der Liebe
rüttelte sie ihre Freundin. »Und zieh dich um Himmels willen an. Du holst dir sonst noch den Tod.«
Hastig verschränkte Aurelia die Arme vor der Brust. Sie schüttelte den Kopf, um die Gespinste zu vertreiben.
»So einen seltsamen Traum hatte ich noch nie …« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie erinnerte sich kaum noch, wie sie in diese merkwürdige Kapelle geraten war, geschweige denn, wie sie hier ohne Kissen und wärmende Decke einschlafen konnte.
Da sah sie mit einem Mal die weiße Bluse und den Rock, die ordentlich zusammengefaltet in der Ecke lagen. Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich an den Ablauf des Abends zu erinnern, doch es war, als wollte sie eine Rauchwolke erhaschen. Je angestrengter sie überlegte, wann und warum sie sich ausgezogen hatte, desto lückenhafter wurden ihre Erinnerungen. Sie stand auf und zog sich rasch an, hielt aber inne, als sie auf ihrem zuvor makellosen Umhang einen dunkelroten Fleck entdeckte. Dann sah sie die geöffnete Spange, und ihr Finger fing an zu pochen.
Hätte sie den Blick gehoben, hätte sie vielleicht die Nische entdeckt, in der sie mit dem Fremden gelegen hatte. Und auch die weiße Rose, die er dort für sie zurückgelassen hatte. Die hellen Blütenblätter hoben sich deutlich von dem dunkelroten und purpurfarbenen Samt und den Kissen ab, auf denen sie bei ihrem Liebesspiel gelegen hatten. Nicht, dass einer von ihnen bei ihrer Umarmung noch auf die weichen Stoffe geachtet hätte.
Aber Aurelia sah nicht hoch. Sie suchte eilig ihre Sachen zusammen, lief mit Siv zum Bahnhof und ließ die kalten Steinmauern samt ihren Erinnerungen hinter sich.
4 IN DER NEUEN WELT
Eine sanfte Brise wehte durch die Bucht und trieb graue Wolken vor sich her, ein erster Vorgeschmack auf den Herbst.
Aurelia hatte sich Kalifornien eigentlich als unentwegt sonniges Land vorgestellt und merkte jetzt, wie oberflächlich sie sich auf ihre Reise in die USA vorbereitet hatte. Das Klima in San Francisco war keineswegs südlich, sondern glich eher dem europäischen. Wie ärgerlich, dass sie sich nicht besser informiert hatte, nachdem sie und Siv sich so rasch für Nordkalifornien entschieden hatten. Wessen Idee war das eigentlich gewesen? Wenn sie auf Regen und feuchte Morgennebel aus gewesen wären, hätten sie auch nach London fahren oder gleich daheim bleiben können.
Aurelia war zwar in den Vereinigten Staaten geboren, aber nach dem Tod ihrer Eltern zu ihren Pflegeeltern nach England gebracht worden. Nun kam sie zum ersten Mal wieder hierher. Siv war in den Ferien schon in New York und Florida gewesen, doch die Westküste kannten beide Mädchen nicht, und alles, was sie irgendwann mal darüber gelernt hatten, war im Lauf der Zeit von zahllosen Kino- und Fernsehfilmen überlagert worden.
Bei ihrer Ankunft vor einer Woche war es bereits dunkel gewesen. Die Fahrt im Taxi nach Oakland hatte kein Ende nehmen wollen, und als das Auto über die Brücke gefahren war, lagen vor ihnen die Berge und hinter ihnen die Halbinsel im Nebel, sodass sie die Lichter der Großstadt nur erahnen konnten. Nach dem langen Flug hatten sie das als besonders verstörend empfunden, und als sie endlich das weitläufige Anwesen mit dem akkurat gestutzten Vorgarten erreicht hatten, war ihnen jede Lust auf eine höfliche Unterhaltung vergangen.
Edyta, ihre betagte Vermieterin, die in dem Haus auch eine kleine Ballettschule betrieb, hatte sie an der Tür empfangen. Sie war hochgewachsen, extrem schlank, und ihre Körperhaltung verriet das jahrzehntelange Tanztraining.
Ginger hatte ihnen diese Adresse während ihrer Reisevorbereitungen über Bekannte vermittelt – quasi als Abschiedsgeschenk für Siv –, dabei allerdings betont, er habe nicht die geringste Ahnung, wie alt ihre Vermieterin sei. Die Mädchen trauten sich nicht, sie zu fragen, vermuteten jedoch, dass sie über siebzig war, obwohl sie auch älter sein konnte und sich einfach nur besonders gut gehalten hatte. Ginger und Siv hatten sich zwar geschworen, in Kontakt zu bleiben, doch Aurelia ging davon aus, dass ihre Verbindung nun, da sie in die USA umgezogen waren, ganz automatisch enden würde.
Edyta trug einen schmalen Hausmantel aus cremefarbener Seide mit einem Blumenmuster; ihre Füße steckten in knallroten Pantoletten. Auf ihren Lippen schimmerte ein Hauch Gloss, und ihr graues Haar war zu einem kurzen Bob geschnitten, leicht violett getönt und streng hinter die Ohren gekämmt. Ihre langen Ohrläppchen wurden durch das
Weitere Kostenlose Bücher