Die Farbe der Liebe
Gewicht der schweren Rubinohrringe noch länger.
Sie führte die Mädchen direkt in ihre Schlafzimmer, die weiß gestrichen und sparsam, aber mit schlichter Eleganz eingerichtet waren, und zeigte ihnen noch die Dusche, den Wasserkocher und andere notwendige Dinge. Dann ließ sie sie allein, damit sie sich hinlegen und nach der anstrengenden Reise ausschlafen konnten.
Am nächsten Tag hatten sie Gelegenheit, sich das ganze Haus anzuschauen und mehr über ihre zukünftigen Pflichten zu erfahren. Obwohl Aurelia die Kosten für das Zimmer aus ihrem Vermögen bestreiten konnte, hatte sie sich bereit erklärt, an einem Nachmittag pro Woche Büroarbeiten zu erledigen, um berufliche Erfahrung zu sammeln. Und Siv, die für Unterbringung und Verpflegung arbeiten musste, würde jeden Nachmittag Tanzunterricht geben und beim Putzen des Hauses helfen. In dieser ersten Woche hatten sie allerdings noch frei, um sich einzuleben, bis der Alltag für sie beginnen würde.
Diese ersten Tage hatte Aurelia wie durch einen Schleier erlebt. Und das lag, wie sie wusste, nicht nur an der Zeitumstellung oder der fremden Umgebung. Während sie sich an ihr neues Heim gewöhnte und den Akzent der Menschen, ihre Gewohnheiten, die Straßen in der Nachbarschaft, die nahe gelegenen kleinen Geschäfte kennenlernte, empfand sie fern der Heimat nicht nur ein überwältigendes Gefühl der Fremde, sondern war sich auch bewusst, nur zur Hälfte anwesend zu sein. Die andere Hälfte, vielleicht sogar – den physikalischen Gesetzen zum Trotz – ihr ganzer Körper befand sich noch in Bristol, nackt auf den kalten Steinplatten in den frühen Morgenstunden.
Ihre Orientierungslosigkeit beim Aufwachen und die seltsame Benommenheit, die sie empfunden hatte, als Siv vor ihr stand und sie sich dann hastig anzog und mit der Freundin zum Bahnhof Temple Meads lief, hatten nach der Party in Bristol noch einige Tage angedauert.
Nach und nach erinnerte sich Aurelia an die Ereignisse, jedoch nur in kurz aufblitzenden Empfindungen und Gefühlen, die so unvermittelt und real waren, als befände sie sich geradewegs wieder in dem Kirchlein und als wären einzelne Augenblicke zu Standbildern eingefroren, die sich wahllos und in den unpassendsten Situationen in ihren Kopf drängten. So konnte es passieren, dass sie – wenn sie nach dem Einkaufen mit ihren braunen Papiertüten die Straße entlangging und den banalsten Gedanken nachhing – plötzlich den heißen Atem des Fremden auf ihrer Wange spürte und seine Lippen auf ihren und seine Finger, die ihre Klitoris streichelten. Aurelia wurde dann von Wogen des Verlangens überflutet, die so mächtig waren, dass sie stehen bleiben, die Einkaufstüten auf dem Pflaster abstel len und tief durchatmen musste, bis es vorbeiging und sie ihren Weg fortsetzen konnte.
Im Lauf der Zeit aber hatten sich die Erlebnisse jener Nacht in der richtigen Reihenfolge geordnet, obwohl Aurelia weiterhin rätselte, wer der Fremde war und was das Ganze zu bedeuten hatte. Siv hatte sie nichts von ihrem Erlebnis erzählt; es war zu intim – und auch viel zu verrückt und verwirrend –, um es jemandem zu schildern, und sei es der besten Freundin.
Es gab Momente, in denen Aurelia sich fragte, ob sie völlig den Verstand verloren habe. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre Emotionen mithilfe von Logik und Vernunft zu bändigen, eines blieb immer gleich: Jeder Gedanke an den Fremden war mit zwei Empfindungen gekoppelt, mit Erregung und Geborgenheit. Was auch immer in jener Nacht geschehen war, in seinen Armen war sie sicher gewesen – ja, sogar behütet –, das wusste sie.
Doch seitdem hatte sie sich mit anderen Dingen befassen müssen, und sie hatte all ihre Gedanken, Fragen und Wünsche beiseitegeschoben, als sie in aller Eile ihre Amerikareise planten. Ihr Aufbruch war ihr vorgekommen wie ein Film im Zeitraffer: das Packen, die kleinen Erledigungen in letzter Minute, die gefühlvollen Abschiede, dann das Taxi nach Gatwick und der Flug nach San Francisco. Als hätte alles Übrige in ihrem Leben sich verschworen, sie bis zu diesem Augenblick am Nachdenken über jene Nacht, den Fremden und ihre Entjungferung zu hindern.
Heute hatten die beiden Mädchen ihren letzten freien Tag, ehe Siv für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten beginnen würde und sie beide nicht mehr als Touristinnen unterwegs wären, sondern als normale Einwohner von San Francisco einen Neuanfang machten.
Aurelia betrachtete ihren Finger. Von dem Stich mit der spitzen Nadel
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