Die Farbe der Liebe
Seattles Straßen lief oder ihren Bonsai beschnitt, hatte sie ihre innere Ruhe gefunden. Daher kam es ihr ganz natürlich vor, von einer Vielzahl dominanter Sexpartner genommen zu werden.
Sie musste über nichts nachdenken, nicht einmal, wohin sie als Nächstes ihren Arm oder ihr Bein legen sollte, denn die Männer und Frauen, die sich in ihrem Bett einfanden, bewegten ihre Gliedmaßen, als wäre sie eine leblose Puppe, die ausschließlich zu dem Zweck existierte, ihnen Lust zu verschaffen.
Ohne jede Ablenkung und ohne zu wissen, wer sie gerade fickte, bestand Aurelias Welt ausschließlich aus Empfindungen. Wenn ihr etwas über die Haut strich, wenn ihre Nippel fest gedrückt wurden, wenn ein Schwanz, der in sie geglitten war und sie bis zum Rand ausfüllte, zustieß, spürte sie jeden Nervenreiz zehnmal intensiver als alle bisherigen Berührungen in ihrem anderen Leben. Denn so teilte sie es jetzt ein: in das Leben vor ihrer Ankunft beim Ball und das danach.
Als ein Mann ihr zärtlich den Kopf nach hinten bog, damit sie einen Schluck Wasser aus einem Glas trinken konnte, glaubte sie zu spüren, wie ihr jeder einzelne Tropfen über die Zunge perlte und die Kehle hinunterrann. Derselbe Mann legte sie anschließend vorsichtig aufs Bett zurück, senkte den Kopf über ihre Möse und leckte ihre Knospe; seine Zunge beschrieb präzise geometrische Muster, die ihre Erregung so gekonnt steigerten, dass alle ihre Tattoos glühten, als sie kam, und ihr Körper nur noch aus diesen sengenden Zeichen zu bestehen schien.
Sobald er gegangen war, sank sie in einen tiefen, entspannten Schlaf. Erst als sie am nächsten Morgen langsam wieder zu sich kam, überfielen sie Scham und Schuldgefühle.
Die Lichter in der Pagode brannten so hell wie Bühnenscheinwerfer, der Garten ringsumher hingegen lag in tiefem Dunkel. Aurelia wusste, dass die nächtlichen Exzesse von jedem in der Umgebung detailliert verfolgt werden konnten.
Befand sich auch Andrei unter den Zuschauern? Und falls ja, was hatte er gesehen? Ungebeten drängten sich Bilder vor ihr inneres Auge, die sie wie eine Außenstehende betrachtete, als wäre sie er, und sah Szenen, wie sich ihr Gesicht jedes Mal wieder vor Lust und Entzücken verzerrte, wenn der Schwanz eines nächsten Liebhabers in sie drang; wie sich ihre geschwungenen Lippen öffneten, wenn sie beim Orgasmus aufschrie; wie sie all den Männern geradezu gierig erlaubte, sie in jede gewünschte Position zu bringen; und wie sich ihre Hüften vor- und zurückschoben gleich einem Tier beim Paarungstanz, um ihnen das Eindringen zu erleichtern.
Ihr Körper hatte sich auch verändert. Schmale Tattoobänder zogen sich jetzt um ihre Handgelenke und Knöchel, und eine zarte weiße Perlenreihe zierte ihre schlanke Taille. Selbst wenn sie die sexuellen Begegnungen aus dem Gedächtnis hätte streichen können, diese Spuren in ihrer Haut waren unauslöschlich. Es schien, als wollte der Ball sein Meisterwerk auf ihrem Körper verewigen.
Offenbar hatte man die Veränderungen in ihrem Verhalten bemerkt und wollte auf der Stelle ihr Selbstwertgefühl stutzen, denn jetzt endlich zeigte sich eine ihrer Ausbildungsleiterinnen.
Es war die Frau im grauen Kostüm. Da Aurelia schon so lange kein normales Gespräch mehr geführt hatte, schüttete sie der namenlosen Frau rückhaltlos ihr Herz aus. Die saß ihr gegenüber steif auf einem Hocker und notierte sich sorgfältig jedes ihrer Worte auf einem gelben Schreibblock.
»Schäme dich nie wegen Sex«, sagte die Frau schließlich, nachdem sie sich ihr anvertraut hatte. »Schäme dich nur für Gewalt.«
Allerdings unterließ sie es, diese Bemerkung näher auszuführen, und gab ihr auch sonst keine Erklärungen oder weitere Ratschläge. Dennoch fühlte Aurelia sich durch diese wenigen Worte bereits getröstet.
Ihre Nächte mit anderen Liebhabern hatten jedoch nicht die tiefe Sehnsucht stillen können, die sie nach Andrei empfand. Wie schön wäre es, seine Haut auf ihrer zu spüren! Vielleicht war es ja möglich, Andrei und dem Ball zu gehören. Doch sie konnte nicht vergessen, wie traurig er ausgesehen hatte, als er ihr eröffnete, dass nicht er sie »ausbilden« würde.
Mehr als alles in der Welt wollte sie ihn in den Armen halten und ihm zeigen, dass ihr Herz noch immer ihm gehörte, was er auch gesehen haben mochte. Dabei tröstete sie nur, dass sein Besuch in ihrem Bett unmittelbar bevorstehen musste, denn das hatte sie sich in der Vereinbarung mit dem Netzwerk ausbedungen.
In
Weitere Kostenlose Bücher