Die Farbe der See (German Edition)
er nicht!«
Ole reichte ihr den Pullover. Sie nahm ihn widerspruchslos an, und während Ole sich diskret zu seinen Schuhen hinunterbückte und sich viel Zeit mit den Schnürsenkeln ließ, knöpfte Lina ihr Kleid auf, zog es auf die Hüften hinunter und knotete es dort mit den Ärmeln um den Bauch zusammen. Dann streifte sie Oles wärmenden Pullover über.
Im Schutze von Regen und Dunkelheit liefen sie eilig mit ihrem wertvollen Fund an den nördlichen Ausgang des Sundes zurück. Dort holte Lina eine Uhr aus dem Rucksack hervor. Es war eine Männerarmbanduhr. Wahrscheinlich Sigurs.
»Wir sind viel zu früh! Es ist noch nicht mal drei Uhr«, sagte sie und sah sich suchend um. »Wir können hier nicht einfach eine Stunde lang herumstehen. Wir müssen uns verstecken.«
Ihr Blick blieb an einem der Sommerhäuser hängen. Es sah verlassen aus.
»Da vielleicht? Mit Glück bekommen wir ein Fenster auf.«
»Ich weiß was Besseres«, sagte Ole und nickte zu der heruntergekommenen Segelyacht hinunter, die am nächsten Steg vor ihnen lag. »So wie die aussieht, wird da bestimmt keiner hinkommen!«
Lina lächelte.
»Du scheinst ein Faible für derlei Verstecke zu haben. In und unter alten Booten.«
O ja, dachte Ole und erwiderte ihr Lächeln. Allerdings musste er dabei weniger an seinen Unterschlupf auf Käringön denken als an die Nacht, in der er sich im Vorschiff der Lydia versteckt und von Wellersdorff und die anderen belauscht hatte.
Das Innere der Segelyacht war, wie ihr Äußeres, ungepflegt und heruntergekommen. Es roch muffig nach stockiger Baumwolle und nassem Holz. In den Schapps und der Pantry herrschte eine grauenvolle Unordnung und in der Bilge schwappte so viel Wasser, dass es vor dem Niedergang bereits über die Bodenbretter leckte. Abgesehen davon aber war die Kabine überraschend geräumig und hätte bei etwas mehr Pflege durchaus ganz gemütlich sein können. Obwohl das Boot kürzer als die Lydia war, sorgten der höhere Bug und die größere Breite doch für deutlich mehr Platz unter Deck. Im Salon gab es, außer den Längskojen und dem üblichen Tisch in der Mitte, sogar noch zwei seitliche, über den Sitzbänken gelegene Lotsenkojen.
Im vorderen Querschott des Kajütaufbaus befand sich ein kleines Bullauge, das seitlich am Mast vorbei über das Vorschiff lugte. Von hier aus konnte Ole bequem den Sund im Auge behalten, ohne oben an Deck unter der Persenning hervorklettern zu müssen.
Lina hatte im Vorschiff eine Decke gefunden und sich darin eingewickelt. Ole versprach, Ausschau zu halten, und nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.
Abwechselnd ging Oles Blick durch das Fenster hinaus auf den Sund und zurück auf Linas schlafende Gestalt. Ihre dunkelblonden Haare glänzten in der Dunkelheit der Vorschiffskoje noch immer nass und beinahe schwarz, ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Züge entspannt wie die eines Kindes. Tatsächlich schien sie sogar im Schlaf zu lächeln.
Ole musste an die Berührung ihres Körpers denken, vorhin, im Wasser, und daran, wie sie sich an Bord von Lasses Kutter an ihn geschmiegt hatte. Wäre es nicht herrlich, jetzt einfach nach vorne zu kriechen und das Gleiche zu tun? Ganz ohne verfängliche Gedanken, nur um sie noch einmal so nah an sich zu spüren und das bisschen Wärme zu teilen, das ihre beiden Körper spenden konnten.
Ole riss sich zusammen. Er durfte die Ausschau nach Lasse nicht vernachlässigen!
Rasch warf er einen Blick auf Sigurs Armbanduhr, die Lina auf den Salontisch gelegt hatte. Die phosphoreszierenden Zeiger standen auf halb vier.
Um die Kälte aus seinen Gliedmaßen zu vertreiben, begann er in der Kajüte auf und ab zu gehen. Fünf Schritte am Tisch vorbei nach hinten, fünf Schritte zurück nach vorne. Blick aus dem Bullauge. Fünf Schritte nach hinten, fünf nach vorne. Blick hinaus. Und immer so fort.
Irgendwann bemerkte Ole, dass das Rauschen des Regens an Deck aufgehört hatte und sich von Norden her ein gelbliches Zwielicht über das Wasser und die Felsen auszubreiten begann. Verdammt, jetzt musste es aber endlich vier Uhr sein!
Ein rascher Blick auf die Uhr bestätigte das. Zehn nach! Abermals starrte er aus dem Bullauge, diesmal vor Anstrengung die Augenbrauen zusammenkneifend. Noch immer nichts von Lasses Kutter zu sehen.
Ole wurde nervös. Was, wenn er nicht kam?
Eine weitere halbe Stunde später, in der nichts passiert war, kroch er zu Lina ins Vorschiff und rüttelte sie sanft an der Schulter.
»Wach auf!«,
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